KI hat erstmals ein Arzneimittel entdeckt APOTHEKE ADHOC, 03.03.2020 14:40 Uhr
Das Massachussetts Institute of Technology (MIT) gilt nicht umsonst als das Mekka der Naturwissenschaften: Forscher der Elite-Uni bei Boston haben nun einen potentiellen Meilenstein der Medizingeschichte erreicht. Sie haben eine Künstliche Intelligenz (KI) programmiert, die im Alleingang ein neues Antibiotikum entdeckt hat. Und das scheint enormes Potential zu haben: Es funktioniert dank eines bisher unbekannten Wirkmechanismus gegen den eine Reihe teils multiresistenter Bakterien – die in bisherigen Versuchen auch keine Resistenz gegen den Wirkstoff entwickeln konnten.
Elemente, Moleküle und Tierarten werden oft nach ihren Entdeckern, nach historischen Persönlichkeiten oder anderen ideellen Begriffen benannt: „Halicin“ ist so ein Fall. Das neu entdeckte Antibiotikum wurde aber nicht nach einer Figur der Zeit-, sondern der Filmgeschichte benannt – dem Supercomputer HAL aus Stanley Kubricks legendärem Science-Fiction-Epos „2001: Odyssee im Weltraum“. Der Name ist passend gewählt, denn Halicin ist das erste Arzneimittel, dessen Molekül von einer Computer-Intelligenz entdeckt wurde.
Der Forschungserfolg ist einem Wissenschaftlerteam um den Molekularbiologen Jonathan M. Stokes, den Bioinformatiker Kevin Yang und den Mathematiker Kyle Swanson gelungen. Dazu haben sie einen Algorithmus für maschinelles Lernen – ein selbstlernendes neuronales Netzwerk – mit den Daten zu Aufbau und Struktur von 2500 Molekülen gefüttert, 1700 davon aus einer Datenbank der US-Arzneimittelbehörde FDA, die anderen 800 aus einer Datenbank für natürliche Stoffe. Der Algorithmus wurde darauf trainiert, chemische Eigenschaften von Molekülen zu erkennen, die effektiv Escherichia coli töten, dabei aber möglichst wenig Ähnlichkeit zu bereits bekannten Antibiotika haben.
Nachdem der Algorithmus so trainiert wurde, Muster zu erkennen, wurde er auf den ungleich größeren Broad Institute’s Drug Repurposing Hub losgelassen: Dabei handelt es sich um eine Datenbank von rund 6000 Molekülen, von denen viele zwar die einst entwickelt oder entdeckt, aber niemals als Arzneimittel auf den Markt gebracht wurden. Der Algorithmus scannte nun alle 6000 Moleküle der Datenbank, um solche zu entdecken, die die beiden zuvor erlernten Eigenschaften besaßen – und wurde fündig.
Das nun Halicin genannte Molekül war ursprünglich als Diabetesmedikament entwickelt, mangels Effektivität aber niemals zugelassen worden. Ein weiterer Algorithmus, der Halicin untersuchte, kam zu dem Schluss, der Stoff sei für menschliche Zellen gut verträglich. Das MIT-Team testete ihn daraufhin auf ein Dutzend Keime, darunter M. tuberculosis, C. difficile und multiresistente A. baumannii – mit durchschlagendem Erfolg. Lediglich gegen das Bakterium Pseudomonas war er wirkungslos. Also testeten die Forscher Halicin am lebenden Wesen: Sie infizierten zwei Mäuse mit den Keimen und injizierten ihnen das neu entdeckte Breitbandantibiotikum – ebenso erfolgreich.
Und die weiteren Untersuchungen zu Halicin waren noch erfolgversprechender: So untersuchten die Wissenschaftler die Wirkung des Moleküls auf E.coli-Bakterien über einen Zeitraum von 30 Tagen an den Mäusen. Die Bakterien entwickelten in dieser Zeit keine Resistenzen, normalerweise tun sie das innerhalb weniger Tage. Die Forscher führen das auf die Wirkungsweise von Halicin zurück: Wahrscheinlich zerstört es einen elektrochemischen Gradienten in der Zellmembran der Bakterien, die dadurch kein Adenosintriphosphat (ATP) mehr herstellen können. Gegen diese neue Wirkungsweise Resistenzen zu entwickeln, könnte sehr viel schwieriger sein als bei konventionellen Antibiotika, da deutlich komplexere Mutationen notwendig wären. Das MIT sucht nun ein Pharmaunternehmen oder eine Stiftung, mit dem es Halicin zur Marktreife entwickeln kann.
Die Arbeit der MIT-Wissenschaftler macht auch über Halicin hinaus Hoffnung auf neue Antibiotika: Der Algorithmus hat nämlich noch acht weitere Moleküle identifiziert, die die Forscher nun ebenfalls auf ihre antibiotische Eigenschaften testen wollen. Die Vorgehensweise der Halicin-Entdeckung könnte die aber noch viel grundlegender revolutionieren: Das neuronale Netzwerk hat nämlich Muster identifiziert, die Menschen aufgrund ihres Bias so höchstwahrscheinlich niemals erkannt hätten. Oder einfacher gesagt: Sie denkt nicht mit der Voreingenommenheit eines menschlichen Wissenschaftlers. „Als Resultat kann das Modell Zusammenhänge finden, die menschlichen Experten vollkommen unbekannt sind“, zitiert das MIT die an der Studie beteiligte Wissenschaftlerin Regina Barzilay.