„Phytos eignen sich nicht für Generika“ Patrick Hollstein, 06.11.2015 10:14 Uhr
Pflanzliche Arzneimittel gelten als sanfte Medizin. Dabei seien sie mindestens so komplex wie Biosimilars und keineswegs ohne Risiken, sagt Professor Dr. Werner Knöss. Der Biologe leitet eine von insgesamt vier Zulassungsabteilungen am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM); außerdem ist er Vorsitzender des Committee on Herbal Medicinal Products (HMPC) bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA). Im Interview mit APOTHEKE ADHOC erklärt er, warum es für Phytopräparate unterschiedliche Kategorien gibt, die die Hersteller auch strategisch nutzen können, welche Verpflichtung die Apotheker haben und warum sich der Bereich nicht für Generika eignet.
ADHOC: Was ist das Besondere an pflanzlichen Arzneimitteln aus regulatorischer Sicht?
KNÖSS: Pflanzliche Arzneimittel sind Vielfstoffgemische mit einer ähnlichen Komplexität wie Biosimilars. Das stellt unsere Arbeit vor besondere Herausforderungen: Nicht immer sind alle Anforderungen, die normalerweise an ein Arzneimittel gestellt werden, ohne weiteres zu erfüllen, etwa was den Nachweis der Bioverfügbarkeit angeht. Oft ist auch der Wirkmechanismus nicht abschließend geklärt. Unsere Aufgabe als Behörde ist es, diese Besonderheiten zu berücksichtigen.
ADHOC: Wie gehen Sie beim BfArM mit dem Thema um?
KNÖSS: Hersteller haben drei Optionen, um pflanzliche Präparate auf den Markt zu bringen: Sie können eine echte Neuzulassung beantragen, dann müssen die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit anhand klinischer Studien nachgewiesen werden. Eine Zulassung auf Basis des Well-established-Use setzt eine anerkannte medizinische Verwendung auf Basis einer früheren Zulassung über mindestens zehn Jahre voraus. Traditionell registriert werden können pflanzliche Arzneimittel, wenn es ein mehr als 30-jähriges Erfahrungswissen gibt. Da die Evidenz also ganz unterschiedlich sein kann, sind je nach Abstufung auch nur bestimmte Aussagen zum Produkt zugelassen.
ADHOC: Wie dynamisch ist der Markt?
KNÖSS: Insgesamt hat die Zahl der pflanzlichen Produkte in den vergangenen zehn Jahren abgenommen, auch weil viele Hersteller nicht den Weg durch die Nachzulassung gegangen sind. Wir haben aber mit 2000 zugelassenen Produkten nach wie vor einen großen Bestand, der bezogen auf den Markt etwa ein Viertel des Gesamtvolumens in Europa ausmacht. Aus unserer Sicht haben wir einen gesättigten Markt, in dem gelegentlich Teilmengen ausgetauscht werden.
ADHOC: Wie häufig gibt es echte Neueinführungen?
KNÖSS: Es gibt Neuzulassungen – echte Innovationen sind aber selten. Veregen, ein Extrakt aus Grünem Tee zur Behandlung von Genitalwarzen, war so ein Beispiel. Es gibt eine gewisse Forschung zu pflanzlichen Arzneimitteln, sie war aber schon einmal ausgeprägter. Man kann sagen, dass die Produkte einen deutlich längeren Lebenszyklus haben, als die chemisch-synthetischen Präparate, die ja häufiger verändert oder von neuen Wirkstoffen abgelöst werden.
ADHOC: Wie wird sichergestellt, dass auch der Bereich der traditionellen Phytotherapie auf dem aktuellen wissenschaftlichen Stand bleibt?
KNÖSS: Die grundsätzlichen Maßstäbe und Standards werden durch Monografien gesetzt, die früher auf nationaler und heute auf europäischer Ebene erarbeitet werden. Bislang haben wir im Ausschuss für pflanzliche Arzneimittel drei Viertel der circa 200 relevanten Arzneidrogen abgearbeitet. Ich gehe davon aus, dass unsere Arbeit in zwei Jahren im Wesentlichen abgeschlossen sein wird. Alle fünf Jahre prüfen wir dann, ob es neue Erkenntnisse gibt, die eine Überarbeitung rechtfertigen.
ADHOC: Wie finden die Monografien Eingang in das reale Marktgeschehen?
KNÖSS: Die Monografien des HMPC werden bei der Bewertung von Neuanträgen berücksichtigt. Darüber hinaus liegt es in der Eigenverantwortung der Hersteller, ihre Produkte auf dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zu halten. Wenn eine Monografie geändert wird, sollten Unternehmen, die ein Produkt mit entsprechendem Bezug auf dem Markt haben, dies auch berücksichtigen. Das geschieht leider nicht immer. Wir als Behörde können bestehende Produkte aber nur im Zusammenhang mit Änderungsanzeigen oder anstehenden Verlängerungen auf den Prüfstand nehmen.
ADHOC: Das führt mitunter zu einem Flickenteppich bei den Fachinformationen: Prospan etwa hat je nach Variante unterschiedliche Fachinformationen. Wer soll da den Überblick behalten?
KNÖSS: Eine regelmäßige Überprüfung des Bestandsmarktes durch das BfArM ist gesetzlich nicht vorgesehen – so wie übrigens auch bei den chemisch-synthetischen Präparaten nicht. Wir müssen also davon ausgehen, dass die Unternehmen die erforderlichen Anpassungen dann auf freiwilliger Basis vornehmen. Ansonsten sind die Apotheker gefragt, die Details zu kennen und ihre Beratung danach auszurichten. Grundsätzlich ist es ja nicht selten, dass bei Arzneimitteln Indikationen neu hinzukommen oder wegfallen.
ADHOC: Warum gibt es keinen Bestandsschutz für Produkte, die auf Basis der alten Monografie zugelassen wurden?
KNÖSS: Für bestehende Zulassungen gibt es einen Bestandsschutz. Die Monografien sollen den aktuellen Kenntnisstand abbilden, damit dieser in allen laufenden Verfahren im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen angewendet werden kann. Klare Konsequenz ist es dann, dass die alte Monografie der Kommission E abgelöst wird.
ADHOC: Noch einmal zurück zum Beispiel pflanzlicher Zubereitungen aus Efeublättern: Diese dürfen laut Monografie nur noch als Sekretolytikum und nicht mehr gegen Entzündungen der Atemwege eingesetzt werden. Stiften solche Änderungen nicht mehr Verwirrung als Nutzen?
KNÖSS: Die Angabe einer möglichst konkreten Indikation ist gesetzlich vorgesehen, um dem Anwender Orientierung zu geben. Oft ergibt sie sich aus den relevanten Studien, sodass wir als Behörde gar keinen Spielraum haben.
ADHOC: Apropos Spielraum: Einige Hersteller monieren, dass das BfArM früher deutlich großzügiger war.
KNÖSS: Aus der früheren Verwaltungstätigkeit lässt sich juristisch kein Anspruch ableiten. Das ist auch gut so, denn die Methodik hat sich weiterentwickelt. In den 1980er Jahren waren die Standards der Good Clinical Practice (GCP) nicht dieselben wie heute. Das zu negieren, hieße den wissenschaftlichen Fortschritt zu ignorieren.
ADHOC: Das gilt umgekehrt genauso, wenn für neue Präparate hohe Hürden aufgebaut werden, während etablierte, aber weniger gut erforschte Produkte einfach am Markt bleiben können.
KNÖSS: Wie gesagt: Die Bestandsmarktprüfung ist gesetzlich nicht vorgesehen. Wir als Behörde können den Firmen nur anbieten, sie bei echten Neueinführungen wissenschaftlich zu begleiten und etwa die Studienprotokolle im Vorfeld abzusprechen.
ADHOC: Welche Qualität müssen Studien zu pflanzlichen Präparaten haben?
KNÖSS: Anwendungsbeobachtungen genügen sicher nicht als Beleg für die Wirksamkeit. Natürlich ist es nicht immer einfach, gerade bei Präparaten gegen einfache Befindlichkeitsstörungen, Studien mit therapeutischer Relevanz vorzulegen. Es sollte aber im ureigenen Interesse der Firmen liegen, den Nutzen ihrer Präparate nachzuweisen und sich dadurch ihren Markt zu schaffen. Wem das nicht gelingt, dem stehen die vereinfachten Zulassungsverfahren offen.
ADHOC: Drücken Sie bei der Erstellung der Monografien gelegentlich ein Auge zu?
KNÖSS: Im HMPC führen 28 Experten aus den Mitgliedstaaten sowie fünf kooptierte Mitglieder einen fachlichen Diskurs. Am Ende steht oft ein fachlicher Kompromiss, weil ja die Datenlage oft heterogen ist.
ADHOC: Machen Monografien pflanzliche Präparate generisch?
KNÖSS: Monografien sollen zu einer gewissen Harmonisierung führen, um den Aufwand für Hersteller und Behörden zu vereinfachen. Natürlich profitieren davon in erster Linie kleinere Firmen, die sich eine aufwändige Forschung nicht leisten können. Aber für echte Generika eignen sich pflanzliche Arzneimittel aus meiner Sicht nicht, weil viele Faktoren eine Rolle spielen: die Qualität der Drogen, der Herstellungsprozess und vieles mehr. Unser Bereich lebt nicht von Patenten, sondern von Verfahren.
ADHOC: Sehen Sie einen Trend, dass sich Hersteller mit Kombinationen der Austauschbarkeit entziehen?
KNÖSS: Aus wissenschaftlicher Sicht wären Neuentwicklungen mit Kombinationen immer ein Gewinn. Wer eine Kombination mit einer Zulassung auf den Markt bringen will, kommt um einen Vollantrag kaum herum. Einerseits muss der Nutzen jedes einzelnen Bestandteils für die Wirksamkeit nachgewiesen werden, wobei hierfür zumindest teilweise die Monografien genutzt werden können. Andererseits muss auch die Kombination ausreichend begründet werden. Dafür reichen Zellversuche in der Regel nicht.
ADHOC: Sondern?
KNÖSS: Grundsätzlich kann jedes Unternehmen zu nicht monografierten Arzneidrogen oder Kombinationen eine Neuzulassung beantragen. Dazu müsste die Firma eigene Daten vorlegen oder belegen, dass das Produkt bioäquivalent zu einem bestehenden ist. Das ist natürlich nicht einfach, denn der Gesamtextrakt enthält hunderte Inhaltsstoffe, denen die Wirksamkeit nie eindeutig zugeordnet werden kann. Das Verfahren wird umso aufwändiger, je mehr Bestandteile enthalten sind. Man kann versuchen, die Gleichwertigkeit auf andere Weise darzulegen, etwa über das Extraktionsverfahren.
ADHOC: Warum gibt es keine Monografien für Kombinationen?
KNÖSS: Es gibt zwei Monografien zu Kombinationen von Arzneidrogen: Primel/Thymian und Hopfen/Baldrian. Unterschiedliche Arzneidrogen zusammenzuführen, ist aber äußerst schwierig. Die meisten Monografien werden sich auch in Zukunft mit Einzeldrogen beschäftigen.
ADHOC: Überrascht es Sie, wenn bei pflanzlichen Arzneimitteln plötzlich Risiken auftauchen?
KNÖSS: Arzneidrogen sind Gemische zahlreicher aktiver Naturstoffe. Man muss damit rechnen, dass Nebenwirkungen auftreten und sich sachgerecht damit befassen.
ADHOC: Werden pflanzliche Arzneimittel unterschätzt?
KNÖSS: Dass seit den 1990er Jahren vermehrt Fallbeschreibungen zu Risiken aufgetreten sind, lässt sich sicherlich auch auf das verbesserte Pharmakovigilanzsystem zurückführen. Wir haben in den vergangenen Jahren viel gelernt. Wobei man zugeben muss, dass wir noch zu wenig über Risiken bezüglich Genotoxizität, Kanzerogenität oder Fertilität wissen, die üblicherweise nicht zu Nebenwirkungsmeldungen führen. Ich wäre aber sehr überrascht, wenn wir – ohne neue Methodiken – bei Klassikern wie Kamille neue Risiken identifizieren würden. Ich rechne eher damit, dass bei Drogen, die neu nach Deutschland kommen, Probleme auftauchen.
ADHOC: Bei Kava-Kava wurde dem BfArM Übereifer vorgeworfen. Was sagen Sie zu dem Vorwurf, dass Ihr strenges Vorgehen den Einsatz als Arzneidroge ruiniert hat?
KNÖSS: Bei Kava gab es Signale, die auf erhebliche Risiken hinwiesen. In solchen Fällen wenden wir selbstverständlich die notwendigen Pharmakovigilanz-Mechanismen an. Dazu gehört eine Bilanzierung des möglichen Nutzens und der potenziellen Risiken. Das Urteil des Gerichts hat die Anforderungen zu Kava-Kava jetzt konkretisiert, sodass wir entlang dieser Anforderungen weitere Maßnahmen im Sinne des Patientenschutzes umsetzen.
ADHOC: Hängt über pflanzlichen Präparaten ein Damoklesschwert?
KNÖSS: Unser Anspruch an die Arzneimittelsicherheit gilt für alle Arzneimittel gleichermaßen. Der Patientenschutz steht dabei an erster Stelle.
Professor Dr. Werner Knöss studierte Biologie in Bochum und Bonn; nach der Promotion arbeitete er als Assistent am Insitut für pharmazeutische Biologie. 2000 kam er zum BfArM, wo er 2005 die Leitung der Abteilung „Besondere Therapierichtungen und traditionelle Arzneimittel“ übernahm. Sein Team aus 56 Mitarbeitern beschäftigt sich mit den pflanzlichen Präparaten, Homöopathika, Anthroposophika sowie Vitaminen, Mineralien und Heilwässern. Seit 2006 ist er Mitglied im HPMC, dessen Leitung er vier Jahre später übernahm. Seit 2012 ist er außerplanmäßiger Professor an der Uni Bonn; Gastdozent ist beziehungsweise war er in London und Innsbruck. Seit 2013 ist er Vorsitzender der Kommission des Deutschen Homöopathischen Arzneibuchs.