Forschenden aus Österreich und der Niederlande ist es gelungen, einen Mechanismus nachzuweisen, den sie „trainierte Immunität“ nennen. Sie konnten nachweisen, dass bestimmte Impfstoffe das Immunsystem zwar über spezifische Erreger informieren. Sie sind darüber hinaus aber in der Lage, die generelle Wachsamkeit der angeborenen Immunzellen zu steigern. Die von unter anderem der EU geförderte Studie wurde kürzlich in der Fachzeitschrift „Immunity“ veröffentlicht.
Der menschliche Körper besitzt ein angeborenes und ein erworbenes Immunsystem. Während das angeborene unspezifisch schützt, passt sich das erworbene an spezifische Erreger an und „erinnert“ sich an sie. Impfungen imitieren Infektionen, um das erworbene Immunsystem zu trainieren, ohne Krankheiten auszulösen, und benötigen spezifische Impfstoffe für verschiedene Erreger.
Einige Impfstoffe informieren das erworbene Immunsystem nicht nur über einen bestimmten Erreger. Sie sind darüber hinaus in der Lage, die allgemeine Alarmbereitschaft der angeborenen Immunzellen zu steigern. Die BCG-Impfung (Bacillus Calmette-Guérin/Tuberkulose-Impfung) ist ein Beispiel dafür. Sie sorgt nicht nur für Immunität gegen Tuberkulose, sondern verringert auch die Sterblichkeit von Säuglingen. Dies passiert zusätzlich zum Schutz vor Tuberkulose.
Diesen zusätzlichen Schutz nennen die Forschenden des Forschungszentrums für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften – Kurzname CeMM – und ein Forschungsteam der Niederlande „trainierte Immunität“. Das bedeutet, dass angeborene Immunzellen zwischen einem inaktiven und einem wachsamen Zustand wechseln können. Im wachsamen Zustand bekämpfen sie Infektionen effektiver.
Eine gezielte Förderung trainierter Immunität mittels dafür geeigneter Impfungen könnte zusätzlichen Schutz vor Infektionen bieten. Dazu zählen neben Operationen auch Pandemien, für die noch keine geeigneten Impfstoffe verfügbar sind. Die Wirksamkeit der trainierten Immunität variiert allerdings individuell, und es ist unklar, warum manche Menschen mehr als andere von ihr profitieren.
Insgesamt 276 Personen wurden für die Studie ausgewählt, die anhand der BCG-Impfung durchgeführt wurde. 213 Proband:innen zeigten eine trainierte Immunität und wurden als „Responder“ bezeichnet. Die übrigen 73 Personen, die „Non-Responder“, entwickelten diese nicht. Die Wissenschaftler:innen bestimmten dies durch Messung der Entzündungsmediatoren 90 Tage nach der Impfung. Zu diesem Zeitpunkt sollte eine akute Reaktion abgeklungen sein, aber die trainierte Immunität noch bestehen. Vor der Impfung hatten die Responder niedrigere Mediator-Werte und eher inaktive angeborene Immunzellen im Vergleich zu den Non-Respondern. Das heißt, das Immunsystem der Non-Responder war schon vor der Impfung aktiver als das der Responder.
Das Forschungsteam führt dies auf genetische und Umweltfaktoren zurück. Diese beeinflussen die individuellen Voraussetzungen. Sie fanden vor allem die unterschiedlichen epigenetischen Zustände der Immunzellen bedeutsam, die durch die veränderliche Zugänglichkeit des Chromatins bestimmt werden.
Chromatin ist ein DNA-Protein-Komplex im Zellkern. Es beeinflusst, wie leicht Gene abgelesen werden können. Die epigenetischen Zustände zeigen an, wie flexibel eine Zelle auf ihre Umwelt reagieren kann. Sie sind wichtig für die Anpassungsfähigkeit des Immunsystems. Die Forscher stellten fest, dass sich nach einer BCG-Impfung bei Respondern das Chromatin öffnete. Dies geschah bei den Genen, die für die angeborene Immunität wichtig sind. Bei Non-Respondern hingegen war das Chromatin bereits geöffnet. Es veränderte sich nach der Impfung nicht weiter.
Die Studie zeigt damit, dass epigenetische Zustände Immunzellen helfen, ihre Aktivität zu regulieren. Dies trägt laut den Forschenden wahrscheinlich dazu bei, das Immunsystem im Gleichgewicht zu halten. Es schützt vor Krankheitserregern, ohne unnötige oder schädliche Immunreaktionen zu verursachen. „Unsere Studie zeigt die enge Verbindung zwischen den epigenetischen Zellzuständen und der trainierten Immunität“, erklärt Christoph Bock, Wissenschaftler und Studienleiter des CeMM. „Das erlaubt dem menschlichen Körper zwischen einem wachsamen und einem ruhendem Immunsystem hin und her zu wechseln. Dies ist ein Prozess, der individuell sehr unterschiedlich sein kann und im Rahmen einer Präzisionsmedizin zur molekularen Prävention und gezielten Therapie von Krankheiten genutzt werden könnte.“
Darüber hinaus deuten die Studienergebnisse darauf hin, dass die Narbenbildung nach einer BCG-Impfung nicht zwangsläufig eine starke Immunantwort anzeigt. Sie zeige vielmehr ein bereits zuvor starkes Immunsystem an, welches zu einem besseren Schutz gegen Infektionen führt und damit die Säuglingssterblichkeit senken könnte.
Desweiteren eröffnet die Studie neue Möglichkeiten für die Entwicklung medizinischer Anwendungen. „Wir werden in Zukunft eine neue Art von Medikamenten sehen, bei denen man ein ruhendes Immunsystem gezielt aufweckt“, so Mihai Netea, Forschungsleiter der Radboud-Universität Nijmegen in den Niederlanden. „Ältere Menschen könnten dadurch ihr Immunsystem vor einem geplantem Spitalsaufenthalt stärken, man könnte vielleicht auch das unterdrückte Immunsystem von Krebspatienten damit wieder reaktivieren. Mehrere Unternehmen forschen bereits an Wegen, um die trainierte Immunität ohne den Einsatz von BCG-Impfstoffen zu erreichen.“
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