Grippewelle: Besonders früh, besonders hart? Patrick Hollstein, 09.09.2022 09:25 Uhr
Die Grippewelle könnte früh auftreten und heftig werden. Dies legen zumindest die aktuellen Erfahrungen aus Australien nahe. Nach zwei Jahren Corona-Pandemie ist das Immunsystem nicht trainiert, nach dem Wegfall der Maskenpflicht haben die Influenzaviren leichtes Spiel. Experten raten zur Impfung – auch in den Apotheken.
In Australien habe man gerade eine außergewöhnliche Grippesaison erlebt, berichtet Daniel Furtner, der als Medical Director beim Impfstoffhersteller Seqirus in den vergangenen Monaten vor Ort war. Nach zwei sehr milden Jahren habe man sehr früh einen sehr starken Anstieg der Fallzahlen gesehen: Bis jetzt geben es knapp 220.000 laborbestätigte Fälle, was einer Quote von 0,85 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Das sei mehr als der Durchschnitt der letzten fünf Jahre.
Die Zahlen seien vor dem Hintergrund der hohen Impfquoten von 38,5 Prozent der Gesamtbevölkerung beziehungsweise 67 Prozent aller Menschen über 65 Jahren zu sehen. „Die Bundesstaaten haben dafür gesorgt, dass praktisch jeder Einwohner kostenlos und unkompliziert eine Impfung bekommen konnte.“ Positiv sei auch, dass die Zusammensetzung der Impfstoffe eine sehr hohe Passgenauigkeit habe – insbesondere gegenüber Influenza A H1N1 und H3N2.
Viren waren einfach schneller
Und trotzdem gab es viele Infektionen. „Die Impfraten stiegen zu langsam, die Grippewelle war einfach schneller“, so Furtner. Viele Menschen hätten die Grippe einer Umfrage zufolge nicht als Risiko gesehen. Als die Schutzmaßnahmen fielen und die Grenzen geöffnet wurden, habe sich die Grippe daher sehr schnell und sehr stark ausgebreitet. Eine ähnliche Entwicklung habe man auch in Argentinien gesehen.
Der Infektionsmediziner Dr. Dietmar Beier teilt Furtners Einschätzung. Zwar würden wohl nur laborbestätigte und damit vergleichsweise wenige Fälle gemeldet, sodass von einer 10- bis 100-fach höheren Zahl auszugehen sei. Man könne aber die unterschiedlichen Jahre vergleichen, so der Arzt, der seit seiner Pensionierung freiberuflich tätig und Mitglied der Sächsischen Impfkommission (Siko) ist.
- 2017/18 habe es von Juni bis September eine starke Grippesaison in Australien gegeben und ab Februar auch hierzulande.
- 2018/19 sei die Saison in Australien mild verlaufen, in Deutschland moderat.
- 2019/20 habe es in Deutschland genauso wie in Australien hohe Fallzahlen gegebenen – bis sie wegen des Lockdowns schlagartig abgebrochen seien.
- 2020/21 habe es weder in Australien noch in Deutschland eine Grippewelle gegeben.
- 2021/22 sei die Saison in Australien erneut ausgefallen, in Deutschland habe es nach dem Wegfall der Kontaktbeschränkungen ab März einen späten Anstieg gegeben.
„Dass wir im Herbst eine ähnlich frühe und ausgeprägte Grippewelle bekommen wie in Australien, ist zwar nicht sicher, aber durchaus wahrscheinlich“, so Beier. „Wir müssen also gut vorbereitet sein.“ Denn es drohten viele schwere Verläufe, auch bei jungen Menschen.
Frühzeitig impfen
Furtner pflichtet ihm bei: „Man sollte frühzeitig mit dem Impfen beginnen.“ Denn man müsse davon ausgehen, dass die Impfquoten in den vergangenen Jahren hierzulande deutlich niedriger sei als in Australien und dass das Immunsystem angesichts der beiden ausgefallenen Saisons nicht gut trainiert sei. „Viele Menschen sind sensibilisiert in Sachen Covid-19. In Sachen Influenza sind sie es nicht.“ Dabei seien die Krankheits- und Mortalitätsraten mittlerweile vergleichbar. „In Australien waren nicht die befürchteten Coinfektionen das Problem, sondern die hohe Auslastung der Kliniken.“
Dass auch die Apotheken jetzt ihre Kundinnen und Kunden gegen Grippe impfen dürfen, finden beide Experten gut: „Apotheken sind niedrigschwellig, Grippeimpfungen in der Apotheke sind in Australien längst der Standard“, so Furtner. Und auch Beier begrüßt die Möglichkeit, sofern alle Voraussetzungen auch erfüllt würden.
Welchen Impfstoff sollten die Apotheken einsetzen? Viele Ärztinnen und Ärztee bleiben laut Beier über Jahre hinweg beim einmal gewählten Impfstoff. Doch natürlich müssten auch Weiterentwicklungen berücksichtigt werden, wie Beier an Beispielen erklärt:
- Kinder: nasaler Impfstoff für Kinder (Fluenz)
- Erwachsene und Kinder ab 2 Jahren: zellbasierter Impfstoff (Flucelvax Tetra)
- ältere Menschen: Hochdosis-Impfstoff (Efluelda, ab 60 Jahren) oder adjuvantierter Impfstoff (Fluad Tetra, ab 65 Jahren)
Gießkanne war gestern
Was man nun dringend noch brauche, wäre eine aktualisierte Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko). „Ich würde mich über konkrete Aussagen zu den Zielgruppen und Impfstoffen freuen. Die Zeit der Gießkanne sollte vorbei sein“, so Beier.