Die Immunzellen des Gehirns können sich an vorherige Entzündungen erinnern und so durch diese langfristig verändert werden. Dieses Immungedächtnis beeinflusst möglicherweise den Verlauf später auftretender neurologischer Erkrankungen wie Morbus Alzheimer, wie deutsche Forscher im Fachjournal „Nature“ berichten.
Mikroglia sind sehr langlebige Immunzellen, die nur im Gehirn vorkommen. Sie haben einen protektiven Effekt auf das Gehirn, da sie mittels Phagozytose und Pinozytose Abfallstoffe und toxische Substanzen beseitigen. Daher werden sie zu den Gewebsmakrophagen gezählt. Mikroglia stehen im Verdacht, bei neurodegenerativen Erkrankungen eine zentrale Rolle zu spielen.
Wissenschaftler des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung (HIH), des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und der Universität Tübingen haben in Zusammenarbeit mit weiteren Kollegen deshalb an einem Tiermodell untersucht, ob sich diese Immunzellen im Laufe der Zeit durch äußere Faktoren verändern und welchen Einfluss dies auf die Gesundheit des Gehirns hat. „Aus epidemiologischen Studien weiß man, dass Infektionskrankheiten oder Entzündungen über die Lebensspanne hinweg den Schweregrad einer viel später auftretenden Alzheimer-Erkrankung beeinflussen können. Wir haben uns daher gefragt, ob ein Immungedächtnis in den langlebigen Mikroglia dieses Risiko vermitteln könnte“, erklärt Studienleiter Dr. Jonas Neher (HIH).
Bislang war unklar, ob sich Mikroglia an eine vorhergehende Entzündung erinnern. An Labormäusen konnte die Arbeitsgruppe dies nun zeigen. Die Wissenschaftler lösten eine Entzündung außerhalb des Gehirns aus. Je nachdem, wie oft sie diesen Vorgang wiederholten, konnten sie in den Mikrogliazellen des Gehirns zwei verschiedene Zustände hervorrufen: „Training“ und „Toleranz“. Durch die erste entzündliche Aktivierung wurden die Immunzellen trainiert – bei der nächsten reagierten sie deshalb stärker. Nach viermaliger Aktivierung bemerkten die Forscher eine Toleranz, die Mikroglia sprachen kaum noch an.
In einem nächsten Schritt untersuchten sie, wie sich Training und Toleranz der Mikroglia langfristig auf die Bildung von Amyloid-Plaques auswirken. An Mäusen mit einer Alzheimer-Pathologie beobachteten die Forscher, dass trainierte Mikroglia auch noch viele Monate nach dem Auslösen des Immungedächtnisses zur verstärkten Bildung von Plaques führten und somit den Krankheitsverlauf verschlimmerten. Tolerante Mikroglia hingegen verringerten die Menge der Plaques. Ähnliche Unterschiede beobachteten die Wissenschaftler auch in einem Mausmodell von Schlaganfall.
Die Analysen der Forscher zeigen, dass die diese Unterschiede der trainierten und toleranten Zellen auf epigenetische Veränderungen der Mikroglia zurückzuführen sind. Die chemische Modifikationen an der DNA oder ihren Proteinen führten dazu, dass bestimmte Gene dauerhaft stärker oder weniger stark aktiviert sind. Denn auch viele Monate nach der ersten Immunstimulierung gab es spezifische Veränderungen der Gene, was zu einer veränderten Funktion der Mikroglia führte, beispielsweise das Entfernen der Amyloid-Plaques und damit das Ausmaß der Alzheimer-Pathologie. „Es ist vorstellbar, dass auch beim Menschen entzündliche Krankheiten, die sich primär außerhalb des Gehirns entwickeln, das Immunsystem im Gehirn epigenetisch reprogrammieren“, sagt Neher.
Zudem fungieren Mikroglia als Bindeglied zwischen Nerven- und Immunsystem. Bestimmte Erkrankungen wie Diabetes und Arthrose und auch Infektionen gehen mit Entzündungsreaktionen einher und sind bekannte Risikofaktoren für Alzheimer. Eine mögliche Erklärung könnte den Wissenschaftlern zufolge das Immungedächtnis des Gehirns sein. Weitere Forschungen sollen nun klären, wann und wie sich Mikroglia beim Menschen epigenetisch verändern.
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