Als Lyrica (Pregabalin, Pfizer) 2005 in Deutschland auf den Markt kam, stuften Pharmakologen das Abhängigkeitspotential als gering ein. Im Laufe der Zeit sollte diese Einschätzung sich jedoch als falsch erweisen. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) warnt vor dem missbräuchlichen Konsum und bringt für Pregabalin und Gabapentin eine Einstufung als Betäubungsmittel (BtM) ins Spiel.
Gabapentin und Pregabalin zählen zu den Antikonvulsiva. Die Arzneistoffe werden häufig im Rahmen einer Schmerztherapie verordnet. Sie sind indiziert zur Behandlung von Nervenschmerzen, Epilepsie und Angstzuständen. Die Wirkungen beruhen auf der Bindung an spannungsabhängige Calciumkanäle. Dadurch wird im zentralen Nervensystem die Freisetzung verschiedener Neurotransmitter wie Noradrenalin und Substanz P verringert. Die neuronale Erregbarkeit wird folglich gesenkt.
Die Wirkstoffe werden jedoch häufig auch missbräuchlich verwendet: Suchtpatient:innen entdecken den „Kick“ bei Überdosierung vor allem in Kombination mit Alkohol oder Methadon. Statt der maximalen Tagesdosis von 600 mg werden bis zu 7500 mg konsumiert. Die Missbrauchsfälle und Giftnotrufe nahmen in den vergangenen Jahren rasant zu. Gleiches gilt für Gabapentin. In England ist die Todesrate bei Pregabalin rasant gestiegen. Ein Anstieg lässt sich auch für Deutschland vermuten.
Ernsthafte Nebenwirkungen wie Atemnot, Unruhe, Halluzinationen, Aggressionen, epileptische Anfälle oder Tod können vor allem in Kombination mit anderen Arzneimitteln, Alkohol oder Drogen auftreten. Auffällig ist der Konsum in Kombination mit anderen Drogen wie beispielsweise Opiaten, Benzodiazepinen oder Alkohol.
„Daraus kann schnell ein tödlicher Cocktail entstehen“, mahnt DGN-Generalsekretär Professor Peter Berlit. „Der Mischkonsum kann den Effekt der Drogen verstärken, außerdem auch zu lebensbedrohlichen Vergiftungen führen, mitunter auch zu Ateminsuffizienz und Tod. Leider ist davon auszugehen, dass diese Fälle zunehmen.“
1625 Todesfälle im Zusammenhang mit der Einnahme von Pregabalin hat es zwischen 2017 und 2022 in England und Wales gegeben. Seit April 2019 werden Pregabalin und Gabapentin in Großbritannien als Klasse-C-kontrollierte Substanzen geführt und reihen sich in die Gefahrenstufe von Anabolika und Benzodiazepinen ein. Die Klassifizierung ist eine Reaktion auf Todesfälle, die mit der Verwendung der beiden Wirkstoffe in Zusammenhang gebracht wurden.
Per se ist Pregabalin nicht gefährlich, so die DGE. Jedoch kann es aufgrund der entspannenden und euphorisierenden Wirkung zu Abhängigkeit kommen. Weil Gabapentin anders verstoffwechselt wird, galt es als sicherer und kam als Alternative zu Pregabalin zum Einsatz. „Allerdings wird es von drogenabhängigen Menschen intravenös oder rektal verwendet, was Rauschzustand und Toxizität deutlich erhöht“, so die DGN.
Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) hat bereits 2020 vor der Gefahr der Pregabalin-Abhängigkeit gewarnt und berichtete über einen 6-prozentigen Anstieg der Verordnungszahlen im Jahr 2018 gegenüber dem Vorjahr. Laut Kassenärztlicher Vereinigung Bremen hat die Anzahl der Verordnungen in den letzten Jahren stark zugenommen, laut Arzneiverordnungsreport 2020 von 37 Millionen Tagestherapiedosen (DDD) in 2008 auf 117 Millionen DDD in 2019. Die Ärzteschaft wurde über die Gefahren informiert und aufgefordert, bei Verschreibung genau zu prüfen, ob eine Abhängigkeit oder Koabhängigkeit vorliegt. Patient:innen sollen entsprechend aufgeklärt werden.
„Neurologinnen und Neurologen nehmen diese Verantwortung ernst, dennoch können sie einen Missbrauch nicht immer ausschließen“, so Berlit. Weil Pregabalin und Gabapentin unverzichtbare Medikamente bei der Behandlung neurologischer Krankheiten sind und bei vielen Indikationen keine anderen wirksamen Therapiealternativen zur Verfügung stehen, kommt ein Verbot der Medikamente nicht in Frage. „Es müssen Auflagen für die Verordnung wie eine BtM-Pflicht diskutiert werden, so dass eine höhere Kontrolle gewährleistet ist und der Missbrauch erschwert wird“, sagt Berlit.
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