Antidepressiva

Erhöhen SSRI die Gewaltbereitschaft?

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Berlin -

Nach der Massenschießerei an einer Schule in Florida legten verschiedene Medienberichte nahe, dass der junge Täter Psychopharmaka konsumierte: Eine Schwägerin der Familie soll gesagt haben, dass er die Medikamente einnehmen würde, um mit seiner emotionalen Zerbrechlichkeit umzugehen. Die Washington-Post berichtete, dass der Betroffene in einer Klinik für „psychische Gesundheit" behandelt wurde, die dafür bekannt sei, Patienten mit bewusstseinsverändernden Psychopharmaka zu versorgen. Wissenschaftler beschäftigen sich mit der Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Arzneimitteln und Amoklaufen gibt. Können Antidepressiva das Risiko für Suizid und Gewalt erhöhen? Professor Dr. Peter Christian Gøtzsche vom Nordic Cochrane Centre sagt: Ja.

„Alle Patienten, die für jegliche Indikationen mit Antidepressiva behandelt werden, sollten adäquat überwacht und hinsichtlich klinischer Verschlechterung, Suizidalität und ungewöhnlicher Verhaltensänderungen genau beobachtet werden“, schreibt der Professor für klinisches Forschungsdesign und Analyse in seinem Fachartikel „Antidepressiva und Mord: Fall nicht abgeschlossen“. Das sei Insbesondere während der ersten paar Monate einer medikamentösen Therapie oder zu Zeiten von Dosisänderungen von großer Bedeutung.

Gøtzsche verweist zudem auf eine Mitteilung der US-Gesundheitsehörde FDA vom Jahr 2007. Ihrzufolge können selektive Serotonin-Wiederaufnahmerhemmer (SSRI) in jedem Alter zu „Wahnsinn“ führen. Familien und Betreuungspersonen von Patienten sollten darauf hingewiesen werden, täglich auf das Auftreten von Symptomen zu achten. „Sonst wäre eine tägliche Überwachung nicht erforderlich.“ Eine solche tägliche Überwachung sei jedoch eine Täuschung, denn die Menschen könnten nicht jede Minute überwacht werden. Viele hätten einen SSRI-induzierten Selbstmord oder Totschlag innerhalb von ein paar Stunden begangen, nachdem alle im Umfeld dachten, sie seien „völlig in Ordnung“.

Nebenwirkungen wie suizidale Gedanken, suizidales Verhalten und gesteigerte Aggressivität finden sich auch in den Fachinformationen von gängigen SSRI hierzulande wieder. Die Häufigkeiten variieren von „gelegentlich“ bis „unbekannt“. Solche Symptome können allerdings auch mit der Grundkrankheit zusammenhängen, denn Suizidgedanken sind ein sehr häufiges Symptom bei Depression. Generell wird darauf hingewiesen, dass vor allem in klinischen Studien bei Jugendlichen mit Antidepressiva derartige unerwünschte Wirkungen beobachtet wurden.

In einer Studie von 2016 konnte Gøtzsche zusammen mit seiner Arbeitsgruppe erstmals zeigen, SSRIs im Vergleich zu Placebo die Aggression und Suizidialität bei Kindern und Jugendlichen erhöhen (Odds Ratio 2,79, Konfidenzintervall 95 Prozent). Bei Erwachsenen waren die Ergebnisse statistisch nicht signifikant. Im selben Jahr konnten die Wissenschaftler in einem systematischen Übersichtsartikel darstellen, dass Antidepressiva das Auftreten von Ereignissen fast verdoppeln, die die FDA als mögliche „Vorboten“ für Selbstmord und Gewalt definiert hat (Odds Ratio 1,85, Konfidenzintervall 95 Prozent). Dazu gehören beispielsweise Hysterie, Überdosis, Depersonalisation und kriminelles sowie antisoziales Verhalten. Diese Studie wurde an erwachsenen gesunden Freiwilligen durchgeführt.

„Die Untersuchung von Vorläuferszenarien zu Selbstmord und Gewalt ist genauso wie der Blick auf prognostische Faktoren für Herzerkrankungen“, sagt der Professor. „Wir sagen, dass erhöhte Cholesterinwerte, Rauchen und Inaktivität das Risiko von Herzinfarkten und Herzinfarkten erhöhen und empfehlen daher, etwas dagegen zu unternehmen.“

Dasselbe könne über Mord gesagt werden. „Es kann nicht länger bezweifelt werden, dass Antidepressiva gefährlich sind und Selbstmord und Totschlag in jedem Alter auslösen können“, so Gøtzsche. Seiner Meinung nach sei es absurd, Medikamente gegen Depressionen einzusetzen, die das Suizidrisiko erhöhen. Denn allgemein sei bekannt, dass eine kognitive Verhaltenstherapie das Suizidrisiko bei Patienten, die nach einem Suizidversuch aufgenommen wurden, halbieren kann. Zudem werde das Risiko für Mord unter Psychotherapie nicht erhöht.

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