Rezeptur gegen Erblindung: Apotheken allein gelassen Nadine Tröbitscher, 20.04.2017 10:22 Uhr
Patienten mit seltenen Erkrankungen sind in besonderem Maße auf Hilfe aus der Apotheke angewiesen. Denn oft fehlen Fertigarzneimittel, weil die geringen Absatzmengen für die Industrie nicht attraktiv sind. Doch auch bei den Ausgangsstoffen für Rezepturen wird knallhart kalkuliert. Betroffen sind aktuell Patienten mit Cystinose – die Augentropfen, die sie vor dem Erblinden schützen, können mangels Rohstoff nicht mehr hergestellt werden. Ein Einzelimport ist teuer und genehmigungspflichtig. Statt die Versorgung zu sichern, stellen sich die Kassen quer: Entweder wird die Rechnung gekürzt oder gleich auf Null retaxiert.
Cystinose ist eine seltene hereditäre Stoffwechselkrankheit. Der Abtransport von Cystin, einem durch eine Schwefelbrücke entstandenen Dimer der Aminosäure Cystein, aus den Lysosomen wird gestört. In der Folge können sich Kristalle in fast allen Körpergeweben ablagern. Betroffene werden systemisch und lokal mit dem Wirkstoff Cysteamin behandelt. Um einer Erblindung vorzubeugen, müssen die Patienten täglich Augentropfen benutzen. Ein Fertigarzneimittel gibt es auf dem deutschen Markt nicht. Weltweit wird die Zahl der Erkrankten auf 2000 Menschen geschätzt.
In der Vergangenheit konnten die Augentropfen in der Apotheke hergestellt werden; der Ausgangsstoff konnte von Bedarfslieferanten wie Fagron bezogen werden. Seit mehr als einem Jahr fehlt es jedoch an dem Rohstoff in Arzneibuchqualität. Asiatische Hersteller könnten dem hohen europäischen Standard nicht entsprechen, heißt es: Die Mengen seien zu gering und kein Anreiz, in den asiatischen Produktionsstätten auf GMP umzustellen. Der Ausgangsstoff wäre mit entsprechendem Zertifikat exorbitant teuer.
Damit fällt die Rezeptur weg, denn nach §11 Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) dürfen nur Ausgangsstoffe verwendet werden, deren ordnungsgemäße Qualität sichergestellt ist. „Das Prüfzertifikat soll auch Auskunft über die GMP-konforme Herstellung des Ausgangsstoffs geben, soweit es sich um einen Wirkstoff handelt.“
Zwar gibt es die Möglichkeit, auch Ausgangsstoffe ohne Zertifikat zu verwenden. Dann liegt die Verantwortung für die ordnungsgemäße Qualität der Ausgangsstoffe jedoch alleine beim Apotheker. Ein Inhaber, der seine Patienten trotzdem versorgen will, verarbeitet Ware von Sigma-Aldrich. Der Hersteller hat Chemikalien für die pharmazeutische Forschung im Angebot – keine GMP-Qualität. Die Freigabe für die individuell hergestellten Augentropfen holt sich die Apotheke vom Arzt. Er wird über die Situation aufgeklärt und muss Nutzen und Risiken abwägen. Die Freigabe wird dokumentiert.
Die Herstellung erfolgt nach der ehemaligen NRF-Vorschrift, die jedoch bereits aus der Sammlung herausgenommen wurde. Die Apotheke stellt Tagesdosen zu 2,5 ml her. Verordnet ist meist der Monatsbedarf. Jeden Tag benötigen die Patienten eine neue tiefgekühlte Flasche: Wer drei- bis viermal träufelt, beugt neuen Kristallen vor. Bestehende Ablagerungen können bei acht- bis zehnmal täglicher Anwendung aufgelöst werden.
Bundesweit waren zuletzt verschiedene Apotheken mit dem Problem konfrontiert. Um ihre Patienten weiter versorgen zu können, bestellen viele die Rezeptur bei der spezialisierten Apotheken. Da die Tropfen jedoch tiefgekühlt gelagert und transportiert werden müssen, fallen für den Express-Versand etwa 40 Euro zuzüglich 5 Euro für Trockeneis an. Diese Kosten tragen die Krankenkassen nicht.
Überhaupt stellen sich die Kassen bei der Erstattung quer: Sieben Euro zahlen sie für 300 Gramm, was 120 Tagesdosen entspricht. Bei der Berechnung wird noch der Preis jener Substanz herangezogen, die bereits seit Monaten nicht mehr verfügbar ist. Um wirtschaftlich arbeiten zu können, müssten die Apotheken eigentlich 29 Euro berechnen.
Doch selbst um den niedrigeren Betrag müssen die Apotheken noch kämpfen. Ein Apotheker wurde retaxiert, weil er den Einkaufspreis nicht dokumentiert hatte. Immerhin: Die Knappschaft Bahn-See (KBS) zeigte sich kulant und ließ den Apotheker die fehlende Angabe nachtragen.
Wer das Risiko scheut und nicht die Haftung für den Ausgangsstoff übernehmen möchte, dem bleibt nur die Möglichkeit des Einzelimports. Ein entsprechendes Produkt in 0,55-prozentiger Konzentration kann aktuell ausschließlich aus Großbritannien bezogen werden. Die Augentropfen haben einen relativ kurzen Verfall von etwa drei bis vier Monaten; nach dem Öffnen sind sie nur sieben Tage haltbar.
Der Bedarf für eine Woche kostet im Einkauf etwa 260 Euro, die Kühlware wird innerhalb von vier bis sieben Werktagen geliefert. Grundsätzlich gilt: Vor jeder Bestellung muss die Kostenübernahme beantragt werden. Die KBS schachert auch hier – und zahlt nur einen 1-prozentigen Aufschlag auf den Einkaufspreis.
Andere Importe gibt es über die Einzelimporteure nicht. Das Produkt aus Frankreich kann nur an Krankenhäuser geliefert werden. Mercaptamin aus den USA ist nicht verfügbar – und als Orphan drug ist das Präparat ohnehin vom Ex- und Import ausgeschlossen.
Vielleicht entschärft sich das Problem demnächst: Seit Anfang des Jahres sind Cystadrops 3,8 mg/ml (Orphan/Recordati) europaweit zugelassen. Derzeit liefert der Hersteller die Ware auf Anforderung als Import aus Frankreich nach Deutschland. Die Apotheker müssen hoffen, dass das Unternehmen das Produkt auch hierzulande regulär auf den Markt bringt. Dann könnten die Patienten wieder regulär versorgt werden.