Angiogenese-Hemmung

Contergan: Wirkmechanismus entschlüsselt

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Berlin -

Vor 55 Jahren wurde bekannt, dass Contergan (Thalidomid) zu schweren Missbildungen bei ungeborenen Kindern führt. Erst jetzt steht fest, wie es zu den verheerenden Auswirkungen kommen konnte: Forscherer der Technischen Universität München (TUM) haben den Wirkungsmechanismus auf molekularer Ebene identifiziert. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Nature Medicine“ veröffentlicht.

Thalidomid und seine Nachfolgesubstanzen werden unter der Bezeichnung Immunomodulatory Drugs, kurz IMiDs, zusammengefasst. Der Name leitet sich von ihrer Fähigkeit ab, die Immunantwort des Körpers zu verändern. Aus früheren Forschungsarbeiten war bereits bekannt, dass ein körpereigenes Protein namens Cereblon für die Funktion von IMiDs eine wichtige Rolle spielt.

Den genauen Wirkmechanismus konnte aber erst ein Team um Professor Dr. Florian Bassermann herausarbeiten: Cereblon bindet in Zellen an die Proteine CD147 und MCT1. Diese beiden treten insbesondere in Zellen des blutbildenden Systems und in Immunzellen auf und spielen unter anderem eine Rolle bei der Gefäßneubildung und dem Stoffwechsel der Zelle.

Als sogenannter Proteinkomplex treten CD147 und MCT1 immer paarweise auf. Um zueinander zu finden und aktiv werden zu können, sind sie auf Cereblon angewiesen. Die Bindung an das Protein fördert ihre Ausreifung und Stabilität, wodurch das Wachstum der Zelle gefördert wird und Stoffwechselprodukte wie Laktat ausgeschieden werden. Bei einer Erkrankung wie dem Multiplen Myelom führt das vermehrte Auftreten des Proteinkomplexes dazu, dass sich die Tumorzellen stark vermehren und ausbreiten können.

Wird eine Krebserkrankung mit IMiDs behandelt, verbinden diese sich mit Cereblon und verdrängen gewissermaßen den Proteinkomplex. Die beiden Proteine können dadurch nicht aktiviert werden und verschwinden. „Letztlich führt das dazu, dass die Tumorzelle abstirbt", sagt Dr. Ruth Eichner, Erstautorin der Studie.

Das Verschwinden des Proteinkomplexes ist auch für Missbildungen bei Ungeborenen verantwortlich, wie die TUM-Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit einem Team des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) zeigen konnten. „Hier gibt es einen gemeinsamen Mechanismus“, sagt Bassermann. „Wenn man den Proteinkomplex mit anderen Mitteln ausschaltet, führt das zu denselben Entwicklungsschäden wie eine Behandlung mit Thalidomid.“

Ohne die beiden Proteine können sich Blutgefäße nicht normal entwickeln. Das bestätigt die Vermutung, dass die typischen durch Contergan verursachten Fehlbildungen mit Problemen bei der Gefäßneubildung zusammenhängen. Weltweit kamen zwischen 5000 und 10.000 geschädigte Kinder auf die Welt. Mehr als 2000 Menschen in Deutschland und anderen Ländern leben bis heute mit den Folgen.

Contergan wurde nach Bekanntwerden der Nebenwirkungen vom Markt genommen. Thalidomid erlebte jedoch in den letzten Jahren eine Renaissance, nachdem durch Zufall entdeckt worden war, dass der Wirkstoff das Wachstum einiger Tumore hemmt. Mittlerweile sind mit Lenalidomid und Pomalidomid zwei Nachfolgesubstanzen auf dem Markt, die eine stärkere Anti-Tumorwirkung und weniger Nebenwirkungen haben. Nach wie vor können diese Medikamente aber schwere Missbildungen bei ungeborenen Kindern verursachen und dürfen deshalb nicht bei schwangeren Patientinnen eingesetzt werden.

Eine direkte Konsequenz für die Praxis lässt sich aus dem Zusammenhang zwischen der klinischen Wirksamkeit einer IMiD-Therapie und den beobachteten Effekten auf molekularer Ebene ziehen. „Nur bei Patienten, bei denen eine Therapie anschlug, konnten wir auch einen Verlust des Proteinkomplexes feststellen“, sagt Bassermann. Das lasse sich nutzen, um die Erfolgschancen einer Behandlung vorab abzuschätzen: Nur wenn der Proteinkomplex in vorab entnommenen Tumorzellen nach einer Behandlung mit IMiDs verschwinde, sei es auch sinnvoll, den Kranken eine Therapie mit IMiDs zuzumuten, sagt Bassermann.

Die Ergebnisse der aktuellen Studie könnten auch ein Ausgangspunkt für neue Krebstherapien ohne IMiDs sein. Als Ansatzpunkt für eine Behandlung von Tumorzellen ist der Proteinkomplex besonders geeignet, da er sich in an der Zelloberfläche befindet und gewissermaßen das Innere der Zelle mit dem Äußeren verbindet. Möglicherweise lässt er sich auch mit anderen Medikamenten oder mit eigens dafür geschaffenen Antikörpern deaktivieren. An letzteren forschen Bassermann und seine Mitarbeiter derzeit.

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