Contergan: Forscher entschlüsseln weiteren Mechanismus APOTHEKE ADHOC, 07.08.2018 09:39 Uhr
In den vergangenen Jahren legten mehrere Arbeitsgruppen den Fokus ihrer Forschung auf die teratogene Wirkung von Contergan (Thalidomid), die lange Zeit unbekannt geblieben waren. Zuletzt entdeckten Wissenschaftler der Technischen Universität München (TUM) molekulare Mechanismen. Neue Daten zu diesem Thema liefert nun ein Team um Dr. Eric Fischer vom Department of Cancer Biology des Dana-Farber Krebsinstituts in Boston.
Thalidomid und seine Nachfolgesubstanzen werden unter der Bezeichnung Immunomodulatory Drugs, kurz IMiDs, zusammengefasst. Der Name leitet sich von ihrer Fähigkeit ab, die Immunantwort des Körpers zu verändern. Aus früheren Forschungsarbeiten war bereits bekannt, dass ein körpereigenes Protein namens Cereblon für die Funktion von IMiDs eine wichtige Rolle spielt.
Die TUM-Wissenschaftler konnten zuvor zeigen, dass Cereblon in Zellen an die Proteine CD147 und MCT1 bindet. Diese beiden Enzyme treten insbesondere in Zellen des blutbildenden Systems und in Immunzellen auf und spielen unter anderem eine Rolle bei der Gefäßneubildung und dem Stoffwechsel der Zelle. Die US-Forscher zeigen nun, dass Thalidomid und andere IMiDs auf molekularer Zellebene den Abbau mehrerer Transkriptionsfaktoren fördern. Darunter fällt SALL4 (Sal-like protein 4), ein sogenanntes C2H2-Zinkfingerprotein.
Den Arbeiten zufolge induzieren heterozygote Mutationen in SALL4 Geburtsfehler wie das Fehlen von Daumen, Phokomelie, Defekte in der Entwicklung des Ohrs und des Auges und angeborene Herzerkrankungen. Dieser Mechanismus konnte ausschließlich bei Menschen, Primaten und Kaninchen nachgewiesen werden, nicht aber bei Fischen. Den Forschern zufolge ist das ein Hinweis für eine Spezies-spezifische Pathogenese.
Das Schlafmittel Contergan wurde 1957 von der Firma Grünenthal in den Verkehr gebracht – und 1961 wieder vom Markt genommen. Denn das Präparat löste den größten Medikamentenskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte aus: Ende der 1950er Jahre kam es zu einer Häufung von schweren Missbildungen bei Neugeborenen. Hintergrund dafür sind die unterschiedlichen Wirkungen der Enantiomere: das (R)-Enantiomer hat sedierende Eigenschaften, die fruchtschädigende Wirkung wird dem (S)-Enantiomer zugeschrieben. Weltweit kamen etwa 10.000 Kinder mit Missbildungen vor allem an Armen und Beinen zur Welt. Nach Angaben von Opferverbänden leben in Deutschland 2800 Betroffene.
Damals war das Arzneimittel als Racemat erhältlich, auch heute wird es in dieser Form verwendet, allerdings nicht mehr als Schlafmittel. Thalidomid ist in Kombination mit Melphalan und Prednison indiziert für die Erstlinienbehandlung von Patienten mit unbehandeltem multiplen Myelom ab einem Alter von ≥65 Jahren beziehungsweise Patienten, für die eine hochdosierte Chemotherapie nicht in Frage kommt.
In Deutschland ist die Abgabe thalidomidhaltiger Arzneimittel durch den § 3a der Arzneimittelverschreibungsverordnung reguliert, der verordnende Arzt darf solche Medikamente nur über ein T-Rezept verschreiben. Zudem muss er gegebenenfalls ein Schwangerschafts-Präventionsprogramm durchführen.