Wenn Wissenschaftler sich auf die Reise nach neuen Arzneimitteln begeben, achten sie darauf, dass die Wirkstoffe eine große Affinität zum jeweiligen Rezeptor besitzen. Dieser traditionelle Ansatz wird zunehmend in den Hintergrund gerückt. Neuere Erkenntnisse zeigen, dass es auch auf die Verweildauer der Substanz am Rezeptor ankommt, damit eine Wirkung erreicht wird.
Damit Arzneimittel wirken, muss der Arzneistoff an den Rezeptor binden, wodurch in Folge eine Signalkaskade ausgelöst wird. Die Affinität spielt in den Protein-Ligand-Wechselwirkungen eine bedeutende Rolle. Die Ergebnisse eines Forschungsprojekts zeigen nun, dass nicht nur die Neigung der Wirkstoffmoleküle relevant sind. Treibende Kraft war eine Studie aus der Krebsforschung, in der die Forscher einen ungewöhnlichen Zusammenhang zwischen der Flexibilität der Bindungsstellen und der Verweildauer des Wirkstoffs am Zielprotein entdeckt haben.
Ein multidisziplinäres Team aus Wissenschaftlern der K4DD (Kinetics for Drug Discovery Konsortium), des Heidelberger Instituts für Theoretische Studien (HITS) und des Instituto de Biologia Experimental e Tecnológica (iBET, Lissabon) hat mit experimentellen und theoretischen Methoden die Faktoren analysiert, die die Verweildauer von Inhibitoren an Zielproteinen bestimmen. Das K4DD ist eine gemeinsame Initiative von industriellen und akademischen Forschern und hat das Ziel, die Bindungskinetik von Wirkstoffen an Zielproteinen in die Wirkstoffforschung zu integrieren und dadurch zur Entwicklung neuer, verbesserter Medikamente beizutragen. Partner ist Merck.
Die Wissenschaftler nutzten für ihre Analysen das Hitzeschockprotein 90 (HSP90), ein Chaperon, das für die Faltung und Aktivierung vieler Substratproteine verantwortlich ist. Das Protein ist aus der Krebsforschung bekannt. Inhibitoren des Hsp90 werden derzeit als Arzneimitteltarget untersucht, da eine Hemmung von HSP90 zu einer Unterbrechung des Zellzyklus führen und möglicherweise folglich das Tumorwachstum hemmen kann.
Bei ihren Untersuchungen fanden die Forscher heraus, dass eine höhere Beweglichkeit der Bindungsstelle zu längerer Verweildauer führt. Einige der Studienergebnisse sind im Fachjournal „Nature Communications“ nachzulesen. „Wir wissen zurzeit nur wenig über die Faktoren, die die Verweildauer der Wirkstoffe beeinflussen. Deshalb haben wir Thermodynamik und Kinetik gemessen, die Struktur von Komplexen aus HSP90 und Inhibitoren bestimmt und die Dynamik der Komplexen simuliert“, berichtet Dr. Marta Amaral, eine der Erstautorinnen.
Mithilfe der Röntgenkristallographie konnten sie zeigen, dass die Bindungseigenschaften davon abhängen, ob das Protein in der Bindungsstelle eine Schleife oder eine helikale Konformation aufweist. Entscheidend ist der Zustand nach Bindung des Liganden. Komplexe mit einer Helix-Struktur an der Bindungsstelle binden den Wissenschaftlern zufolge den Wirkstoff länger. Sie weisen langsame Assoziations- und Dissoziationsraten, hohe Affinität, hohe zelluläre Wirksamkeit und überwiegend entropisch angetriebene Bindung auf. Ein wichtiger entropischer Beitrag ergibt sich aus der größeren Flexibilität der Helix gegenüber der Schleifenkonformation im Liganden-gebundenen Zustand.
„Wir waren sehr erstaunt darüber, dass ein wichtiger Faktor für die lange Verweildauer die größere Beweglichkeit der Helix-Region an der Bindestelle ist, wenn ein Inhibitor daran gebunden ist“, erzählt Professor Dr. Rebecca Wade (HITS). Dieser ungewöhnliche Mechanismus legt nahe, dass er als neue Strategie für die Wirkstoffsuche dienen kann. In Zukunft könnten auch weniger stabile Zielproteine in Frage kommen, die auch beweglichere Formen des Proteins bei der Bindung erzeugen.
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