Vor mehr als 50 Jahren sorgte der Wirkstoff Thalidomid im Medikament Contergan für negative Schlagzeilen. Nun wird der Nachfolgestoff Lenalidomid erfolgreich in der Therapie von Knochenmarkkrebs eingesetzt. Ein Forscherteam um Dr. Jan Krönke von der Uniklinik Ulm hat den Wirkmechanismus des Stoffs entschlüsselt.
In den 1950er Jahren wurden zahlreiche Babys mit Fehlbildungen geboren, nachdem ihre Mütter in der Schwangerschaft das Schlafmittel Contergan eingenommen hatten. Heute wird derselbe Wirkstoff erfolgreich gegen schwer behandelbare Krebserkrankungen des Knochenmarks eingesetzt, etwa das Multiple Myelom und das Myelodysplastische Syndrom (MDS), aus dem sich Leukämie entwickeln kann. Lenalidomid kann den Zustand der Patienten verbessern.
In einer dreijährigen Forschung untersuchten Wissenschaftler der Medical School Harvard und der Ulmer Uniklinik an den Substanzen. Studienleiter Krönke fand heraus, dass der Wirkstoff Lenalidomid an die sogenannte Cereblon Ubiquitin Ligase bindet, die „Protein-Müllabfuhr“ der Zelle. Auf diese Weise werden die Proteine Ikaros und Aiolos abgebaut. Von diesen Proteinen hängen die Krebszellen des Multiplen Myeloms ab.
Über die Cereblon Ubiquitin Ligase bewirkt Lenalidomid eine gezielte Markierung und den Abbau des Proteins Casein Kinase 1A (CK1A). Bei dem Myelodysplastischen Syndrom, bei dem nur eine Kopie des Chromosoms 5q vorhanden ist, auf dem das CK1A-Gen liegt, sind die Zellen besonders empfindlich gegenüber dem Wirkstoff. Die Zellen verfügen ohnehin über geringe Mengen des fraglichen Proteins. „Demnach nutzt Lenalidomid gezielt den Verlust eines Gens in den Krebszellen aus, um diese zu töten“, so Krönke.
Im Rahmen der Untersuchungen hatte die Forschergruppe erstmals Wirkstoffexperimente an Mauszellen durchgeführt. Mäuse sind von Natur aus resistent gegen den Wirkstoff – daher lieferten die Contergan-Tests an den Tieren vor 50 Jahren auch keine Hinweise auf Nebenwirkungen. Die Wissenschaftler um Krönke konnten das Protein Cereblon genetisch nun so verändern, dass die Mauszellen auf Lenalidomid reagierten. Die Forschungsergebnisse der Gruppe wurden im Fachmagazin „Nature“ veröffentlicht.
Die Firma Grünenthal hatte das Schlafmittel Contergan 1957 auf in den Verkehr gebracht – und es 1961 wieder vom Markt genommen. Denn das Präparat löste den größten Medikamenten-Skandal der deutschen Nachkriegsgeschichte aus: Ende der 1950er Jahre kam es zu einer Häufung von Missbildungen bei Neugeborenen.
Zunächst glaubte man an eine zufällige Häufung, bis deutsche, britische und australische Forscher unabhängig voneinander Thalidomid als Ursache ausmachten. Weltweit kamen etwa 10.000 Kinder mit Missbildungen vor allem an Armen und Beinen zur Welt. Nach Angaben von Opferverbänden leben in Deutschland 2800 Betroffene.
In den 1960er Jahren zahlte Grünenthal rund 100 Millionen Mark zugunsten der Opfer in eine Stiftung ein, 2009 weitere 50 Millionen Euro. Im August 2012 bat das Unternehmen die Opfer erstmals öffentlich um Entschuldigung. Zum 1. Januar 2013 wurde die monatliche Contergan-Rente für deutsche Betroffene von maximal 1152 Euro auf bis 6912 Euro hochgesetzt.
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