App zeigt Nebenwirkungspotenzial an Cynthia Möthrath, 13.11.2021 09:21 Uhr
Vor allem bei einer Polymedikation können unter anderem die Effekte auf den Harntrakt gravierend sein. Unter der Therapie kann es zu verschiedenen Nebenwirkungen kommen. Per App und auf der dazugehörigen Website wird mithilfe des „Wittener Harntrakt-Rechners“ der Uni Witten/Herdecke erstmals die Forschungslage zu verschiedenen Arzneistoffen und Nebenwirkungen zusammengefasst. Das Tool soll in erster Linie eine Hilfestellung für Urolog:innen darstellen, aber auch für die Arbeit in der Apotheke könnte es interessant sein.
Gemeinsam mit seiner Arbeitsgruppe der Uni Witten hat Professor Dr. Andreas Wiedemann, Deutschlands erster Professor für Uro-Geriatrie und Chefarzt der Urologie am Evangelischen Krankenhaus Witten die neue App entwickelt. Der sogenannte „Wittener Harntrakt-Rechner“ ist jedoch auch online auf der eigens eingerichteten Website nutzbar. Das Tool soll erstmals die Forschungslage bündeln und so auf mögliche Nebenwirkungen des Harntraktes aufmerksam machen.
Polymedikation: Gefährlicher Medikamentencocktail
„Dass viele Medikamente teilweise unbekannte Nebenwirkungen entfalten, sich nicht mit anderen Medikamenten vertragen und deren Abbau hemmen oder fördern, ist gerade in der Altersmedizin seit langem bekannt“, erklärt Wiedemann. Die Multimedikation von Senioren – bei der es schnell zu 5, 10 oder gar 15 Medikamenten komme – schaukele sich oftmals zu einem „gefährlichen Cocktail“ auf. Im schlimmsten Falle komme es durch Nebenwirkungen von Blutverdünnern, Diabetesmedikamenten oder Blutdruckpräparaten sogar zu Hospitalisierungen.
Für die Übersichts-App hat das Team medizinische Datenbanken untersucht und die Nebenwirkungen mit den aktuellsten Forschungsarbeiten abgeglichen. „Heraus kam eine Liste von 257 Medikamenten, die hier ein potentielles Risiko darstellen“, erklärt Wiedemann. Die Wirkstoffe wurden 33 Expert:innen vorgelegt mit der Bitte um eine Bewertung: Wurde die angegebene Nebenwirkung selten, manchmal oder häufig in der Praxis erlebt? Dadurch entstanden zwei Listen, die mithilfe eines Scores das Nebenwirkungsrisiko angeben.
In der Datenbank können sowohl Handelsnamen wie auch Wirkstoffe nachgeschlagen werden. Bei der Eingabe zeigt sich dann der Score aus Forschungsarbeiten (Werte von 1 bis 4), sowie der Praxis-Score der Expert:innen (Werte von 0 bis 3). Aus beiden Punktwerten wird zudem ein gemeinsamer Wert berechnet (Werte von 1 bis 7), der Aufschluss über das Nebenwirkungspotenzial auf den Harntrakt gibt. Je höher er ist, umso eher kommt es zu Nebenwirkungen. Andersherum kann auch gezielt nach Nebenwirkungen gesucht werden. Bei dieser Art der Suche werden dann die möglichen „Übeltäter“ und ihr Risikoscore aufgelistet.
Untersützung bei Neuverordnung und Medikationsplan
Durch das Tool soll vor allem die Neuverordnung eines Medikamentes unterstützt werden, indem eingeschätzt werden kann, ob es bei den Patient:innen zu Nebenwirkungen auf den Harntrakt kommen kann. Doch auch bei einem bereits bestehenden Medikationsplan kann überprüft werden, ob die verordneten Medikamente zusammenpassen oder sie ein Risiko für Harntrakt-Nebenwirkungen bergen beziehungsweise auftretende Beschwerden medikamentös verursacht werden könnten. Genau hier könnte das Tool auch für Apotheken interessant sein.
Bislang umfassen Nebenwirkungslisten wie die PRISCUS-Liste oder der Anticholinergic burden Score nur eine bestimmte pharmakologische Gruppe von Nebenwirkungen oder nur eine ausgewählte Patientengruppe. „Wir glauben mit dem Wittener Harntrakt-Rechner ein praxistaugliches Instrument geschaffen zu haben, weil es schnell und zuverlässig speziell für den Harntrakt Auskunft gibt“, erklärt Wiedemann. Das Tool wurde erstmals im September auf dem Deutschen Urologenkongress vorgestellt. Die Entwicklung wurde durch Dr. Pfleger Arzneimittel unterstützt.