Menschen mit Depressionen fällt es im ersten Schritt oft schwer, die Symptome richtig zu deuten und einen Arzt/eine Ärztin aufzusuchen. Wer sich überwunden hat, der sollte laut Leitlinie eine kombinierte Therapie aus Medikamenten und Psychotherapie erhalten. Die alleinige Einnahme von Tabletten wird häufig als unzureichend eingestuft – das zeigt auch eine aktuelle Studie aus den USA.
Eine großangelegte Beobachtungsstudie aus den USA zeigt, dass die alleinige Einnahme von SSRI & Co. zur Verbesserung der Lebensqualität von Depressiven nicht ausreicht. Die Studie basiert auf Daten aus dem „Medical Expenditures Panel Survey“, einer nationalen, repräsentativen Gesundheitsbefragung aus den USA. Befragt wurden über 17 Millionen Erwachsene, die die Diagnose Depression erhalten hatten. Dabei waren mehr Teilnehmende weiblich – Frauen erhalten ungefähr doppelt so häufig die Diagnose Depression wie Männer. „Als Hauptergebnis präsentieren die Autoren, dass die gut 57 Prozent der Studienteilnehmer, die Antidepressiva erhielten, keine stärkere Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität erzielten, als die knapp 43 Prozent, die keine solche Medikation einnahmen“, fasst Professor Dr. Tom Bschor, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, und Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), zusammen.
„Die gesundheitsbezogene Lebensqualität der Studienteilnehmer blieb von der Baseline- zur Follow-up-Untersuchung erstaunlich konstant – ganz unabhängig davon, ob Antidepressiva eingenommen wurden oder nicht“, erläutert Bschor. „Die für die gesundheitsbezogenen Lebensqualität verwendete Skala SF-12 – eine etablierte und geeignete Skala – reicht theoretisch von 0 bis 100 (100 steht für perfekte Lebensqualität). Zwischen Baseline und Follow-up fanden sich in beiden Gruppen – mit oder ohne Antidepressiva – vernachlässigbare Veränderungen zwischen -0,65 und +1,18. Dies weist darauf hin, dass sich unter realen Lebens- und Behandlungsbedingungen keine nennenswerten Veränderungen der gesundheitsbezogenen Einschränkungen der Lebensqualität ergeben. Dies gilt offensichtlich auch für den Einfluss von Antidepressiva.“ Zu bedenken sei in diesem Zusammenhang, dass die Lebensqualität durch die Nebenwirkungen von Antidepressiva auch negativ beeinflusst werden könnte.
Ein Punkt, weshalb Antidepressiva nicht zu einer Steigerung der Lebensqualität führen, könnten die zum Teil belastenden Nebenwirkungen sein. Denn unerwünschte Effekte wie Gewichtszunahme, Libidoverlust oder unreine Haut können die Betroffenen zusätzlich belasten. Nicht selten dauert es, bis die passende Dosierung für den/die Einzelne:n gefunden wird. Bis dahin klagen zahlreiche Patient:innen über zu starke Tagesmüdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten oder Appetitverlust oder -steigerung.
Die Studie weist eine methodische Schwäche auf: Die Studienpopulation ist kein Abbild der amerikanischen Gesamtbevölkerung: 89 Prozent der Population waren weiß, 63 Prozent wohlhabend mit mittlerem bis hohem Einkommen und 64 Prozent der Befragten waren privat versichert. Dennoch zeigt die Studie, dass der alleinige Einsatz von Tabletten & Co. vorsichtig erfolgen sollte. „Auch wenn es kein direktes Ergebnis ihrer Studie ist, weisen die Autoren am Ende ihrer Publikation zurecht darauf hin, dass Ärztinnen und Ärzte eine stärkere Zurückhaltung bei der medikamentösen Behandlung von Depressionen zeigen sollten, nicht nur wegen des fehlenden Effekts auf die Lebensqualität, sondern da sich die Befunde mehren, dass die Verordnung von Antidepressiva langfristig zu einer Verschlechterung des Krankheitsverlaufes mit Chronifizierung und häufigeren Rückfällen der Depression und in der Folge der Notwendigkeit einer Dauerverschreibung von Antidepressiva führt“, gibt Bschor zu bedenken. „Die Autoren fordern, dass andere Behandlungsmöglichkeiten wie Psychotherapie, Hilfe zur Selbsthilfe, Aufklärung, Tagesstrukturierung und soziale Unterstützung vor der Verordnung von Antidepressiva eingesetzt werden sollten. Dem muss zugestimmt werden.“
Die Beobachtungsstudie ist dabei nur eine weitere Untersuchung in diesem Themenfeld. Bereits zahlreiche andere Studienergebnisse liefern Hinweise darauf, dass die Einnahme von Antidepressiva allein – unabhängig von der Wirkstoffgruppe – nicht ausreichend zur Heilung oder Besserung beiträgt. Andere Untersuchungen konnten darüber hinaus zeigen, dass die Compliance bei einer medikamentösen Therapie höher ist, wenn zugleich auch eine Psychotherapie stattfindet.
Die Wirkung von Antidepressiva hängt dabei auch von der Stärke der Depression ab. Eine Metaanalyse zu Daten aus mehreren klinischen Studien, die bei der US-Arzneimittelbehörde FDA für die Zulassung von Antidepressiva eingereicht wurden, zeigt, dass sich die Symptome von Menschen mit leichter bis mittelschwerer Depression bei der Behandlung mit Antidepressiva nicht stärker verbesserten als bei einer Gruppe, die ein Placebo einnahm. Anders bei schweren Depressionen: Hier waren die Medikamente dem Placebo überlegen. Bei Patient:innen mit leichter und neu aufgetretener Depression empfiehlt sich also durchaus zunächst Abwarten. Das Einleiten einer Psychotherapie oder der Besuch von Selbsthilfegruppen sollten jedoch bereits in einem leichten Stadium erfolgen.
Dennoch: Eine rasche Einleitung einer Medikation sollte immer dann in Betracht gezogen werden, wenn aktuell keine Psychotherapie zur Verfügung steht. Häufig kommt es zu Wartezeiten von mehreren Monaten.
APOTHEKE ADHOC Debatte