AMTS: „Wir stehen immer noch ganz am Anfang“ Dr. Kerstin Neumann, 08.04.2016 11:32 Uhr
Die Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) steckt trotz der enormen Anstrengungen nach wie vor in den Kinderschuhen. Dieser Meinung ist Professor Dr. Ulrich Jaehde von der Universität Bonn. Es müsse noch viel Arbeit geleistet werden. Zu wenig komme bislang vor allem von der Industrie und den Hochschulen.
„Arzneimitteltherapie ist ein Hochrisikoprozess“, so Jaehde. Dabei sei es wichtig, dass alle Teilnehmer im Gesundheitswesen ihren Beiträge leisteten. „Da ist noch viel Luft nach oben“, so der Experte für klinische Pharmazie. Nach wie vor gehen Schätzungen von mindestens 16.000 Toten durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) und Medikationsfehler aus. „Wenn man das mit der gesicherten Zahl von 4000 Toten durch Verkehrsunfälle pro Jahr in Deutschland vergleicht, wird einem die Dimension erst richtig klar“, erläutert Jaehde auf der Veranstaltung „Hochschule und Industrie“ an der Goethe-Universität Frankfurt.
Dabei werde der Risikofaktor Alter vor allem von den Apothekern noch viel zu sehr unterschätzt. „Schon junge Menschen schaffen es nicht, drei Medikamente dauerhaft einzunehmen“, so Jaehde. Bei geriatrischen Patienten mit im Schnitt neun Medikamenten seien Fehler vorprogrammiert. „Es reicht nicht, das den Patienten nur einmal zu erklären und einen Medikationsplan aufzustellen.“
Unterstützung müsse noch stärker von der Industrie kommen, fordert Jaehde. „Man kann als Hersteller eine ganze Menge tun, um Patienten die richtige Einnahme von Medikamenten zu erleichtern. Auffällige Warnhinweise auf der äußeren Verpackung wären bei Medikamenten mit besonderer Dosierung beispielsweise hilfreich.“ Ein roter Aufdruck auf einer Packung des Chemotherapeutikums Methotrexat, dass es nur einmal pro Woche verabreicht werden darf, sei ein guter Weg, um schwerwiegende Nebenwirkungen durch eine zu häufige Einnahme zu vermeiden.
Daneben fordert Jaehde mehr Anstrengungen der Industrie, um die Lesbarkeit der Gebrauchsinformationen zu verbessern. „Verständliche Sprache, große Schrift und Piktogramme sind einfache Mittel, um Risiken zu vermeiden“. Falsches Suggerieren der Teilbarkeit von Tabletten durch geprägte Kerben oder ähnlich aussehende Packungen insbesondere bei Generika müssen strikter unterbunden werden. „Aus dem Blickwinkel der Arzneimittelsicherheit ist Corporate Identitiy ein echtes Problem“, so Jaehde.
Auch die Hochschulen bringen sich seiner Meinung nach bislang zu wenig ein. „AMTS sollte eine echte Kernkompetenz für Apotheker werden, und zwar schon in der Ausbildung“. Bei regelmäßigen Treffen mit Studierenden aus den USA sehe er, welche Auswirkungen ein frühes Heranführen an das Medikationsmanagement auf die Kompetenz habe. „Die amerikanischen Studierenden haben das gleiche Wissen wie die deutschen, aber durch das ständige Beschäftigen mit dem Thema können die US-Studenten sofort nach dem Studium arzneimittelbezogene Probleme viel schneller erkennen“, berichtet Jaehde.
Auch Professor Dr. Martin Schulz, ABDA-Geschäftsführer Pharmazie und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK), sieht Nachholbedarf im Studium – sowohl für Ärzte als auch für Apotheker. „Wir brauchen grundlegende Veränderungen in der Ausbildung beider Heilberufe“, so Schulz. Wichtig dabei sei, dass von Anfang an die Kompetenzen klar verteilt seien, um in Zukunft Schwierigkeiten zwischen den Berufsgruppen zu vermeiden. „Es gibt bereits viele gute Ansätze, beispielsweise tauschen sich die Bundesverbände der Pharmaziestudierenden und der Medizinstudierenden bereits aus und haben eine Initiative zur AMTS ins Leben gerufen.“
Dr. Thomas Lipp, Allgemeinmediziner und Mitglied im Hartmannbund, sieht die Apotheker beim AMTS als den Ärzten nachgeordnet an. „Das Medikationsmanagement ist bereits das Kerngeschäft der Hausärzte“, so Lipp. Er selbst sei froh, wenn ein kompetenter Apotheker ihn dabei unterstütze. Die Hoheit müsse aber beim Mediziner bleiben. „Die Apotheker sind heute weder willens noch in der Lage, ein vollständiges Medikationsmanagement durchzuführen“, ist Lipp überzeugt.
Allerdings sei es dringend an der Zeit, dass auch die Ärzte sich weiter entwickelten. „Bedauerlicherweise ist die Medizin heute fokussiert auf Normen. Den Ärzten wird eingebläut, nur nach Leitlinien zu therapieren“. Ein modernes Medikationsmanagement sei aber so nicht machbar. „Wer nur auf Normen setzt, vergisst die individuellen Bedürfnisse der Patienten.“ Es passiere viel zu häufig, dass Patienten übertherapiert, dafür aber andere Aspekte außer Acht gelassen würden.
„Es muss den Ärzten klar werden: Kein Patient darf mehr als fünf Medikamente bekommen“, so Lipp. Stattdessen müsse man viel mehr auf andere Aspekte achten. „Ältere Patienten ernähren sich oft schlecht. Damit verändern sich aber auch Arzneimittelwirkungen. Man könnte auf viele Medikamente verzichten, wenn man sich zunächst einmal die allgemeine Konstitution anschaut.“