ADHS: Nur Hälfte der Erwachsenen will Behandlung dpa, 02.11.2018 10:41 Uhr
„Seien Sie doch nicht so nervös!“, hört Andreas Schmidt häufig von Gesprächspartnern. „Ich bin nicht nervös, ich bin so“, sagt der 61-Jährige dann. Der Elektroniker, der seinen richtigen Namen nicht öffentlich machen möchte, hat eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Seine Krankheit bringt man eigentlich mit unkonzentrierten, zappeligen Kindern in Verbindung. Noch bis vor 15 Jahren herrschte die Meinung vor, dass sich ADHS mit der Pubertät auswächst. Jedoch bleiben mehr als der Hälfte der Betroffenen auch als Erwachsene chaotisch, sprunghaft oder impulsiv. Während im Kindesalter vor allem Jungen wegen ADHS in Therapie sind, gleicht sich das Geschlechterverhältnis später aus.
Als Kind machte Andreas Schmidt stets drei oder vier Dinge gleichzeitig. Nachmittags schlug er selten ein Buch auf, dennoch kam er irgendwie durch Schule und Ausbildung. Dass er ADHS haben könnte, dämmerte ihm erst, als die Störung bei seinem damals sechsjährigen Sohn diagnostiziert wurde und er von der starken erblichen Komponente erfuhr. Grund ist eine fehlerhafte Informationsverarbeitung im Gehirn, verursacht durch ein Ungleichgewicht von Botenstoffen, die eine wichtige Rolle bei der Signalübertragung von einer Nervenzelle zur anderen spielen.
„Ich habe lange Jahre ohne Probleme gelebt“, erzählt der Familienvater aus dem Landkreis Schaumburg während eines Spaziergangs rund um den Maschsee. Längeres Stillsitzen fällt ihm schwer. Im Alter von 40 und dann wieder von 60 Jahren stürzte er in eine Depression, aus den Tiefs konnte er sich nur mit Klinikaufenthalten befreien. Im Frühjahr gründete er eine Selbsthilfegruppe für Erwachsene mit ADHS, um aufzuklären und anderen Betroffenen zu helfen.
Experten zufolge haben etwa drei Prozent aller Erwachsenen ADHS, das sind mehr als zwei Millionen Menschen in Deutschland. Behandlungsbedürftig sei die Krankheit nur, wenn die Betroffenen Einschränkungen im Lebensalltag spürten, sagt Professor Dr. Michael Rösler, der an der Universität des Saarlandes in Homburg forscht. Der Psychiatrieprofessor hat einen Stufenplan zur Behandlung von Erwachsenen entwickelt. „Sie müssen nicht automatisch Pillen verschrieben bekommen“, betont er. Am Anfang stehe das Wissen um die Krankheit und ihren Einfluss auf den Lebensrhythmus.
Häufig tritt ADHS in Kombination mit anderen psychischen Krankheiten auf wie Süchten, Persönlichkeits- oder Angststörungen sowie Depressionen. Oft fehlt laut Rösler die Fähigkeit, Gefahren richtig einzuschätzen, damit steigt die Unfallgefahr.
Als Andreas Schmidt vor 20 Jahren die Frage aufwarf, ob er ADHS haben könnte, wurde er nicht ernstgenommen. „Die Ärzte meinten, jetzt bildet sich der Patient Krankheiten ein!“ Erst im Alter von 60 Jahren bekam er zunächst probeweise ein Methylphenidat-Medikament verschrieben. Erst seit 2011 ist der Wirkstoff für Erwachsene zugelassen. Senioren darf er Rösler zufolge wegen fehlender Studien aber nicht verschrieben werden.
„Ich habe die Tabletten genommen, mich in meinen Fernsehsessel gesetzt und zum ersten Mal einen 'Tatort' von vorne bis hinten geschaut“, erzählt Schmidt. „Sonst bin ich ungelogen immer mindestens 20 Mal aufgesprungen, um was zu trinken, herumzulaufen oder weil mir irgendetwas anderes eingefallen ist.“ Auch die Unruhe in den Beinen war weg, die ihm sonst nachts den Schlaf raubte.
Ständig will er die Tabletten aber nicht nehmen. „Ich habe dann diesen Tunnelblick und schaue gar nicht mehr nach rechts oder links. Das ist auch langweilig“, meint der große, schlanke Mann. In der Selbsthilfegruppe, die sich einmal im Monat trifft, sind überwiegend Frauen im Alter von 30 bis über 60 Jahren. „Frauen gestehen sich psychische Probleme eher ein“, glaubt Schmidt. Einige wollen die Ursachen der ADHS verstehen, andere Strategien für mehr Struktur im Alltag und ein „Ende der Aufschieberitis“ finden.
Schmidts Anliegen ist es, das Selbstwertgefühl aller Teilnehmer zu stärken. „Viele haben seit der Kindheit vor allem Ablehnung erlebt.“ Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen hätten die meisten, die Mehrheit verstehe sich aber nicht als krank. Der 61-Jährige will auch die Vorzüge in den Blick rücken: „ADHS-Familien sind nicht nur Chaos-Familien, sondern auch sehr kreative Familien.“