Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist ein umstrittenes Thema – Experten ziehen sogar in Zweifel, dass es sich überhaupt um eine Krankheit handelt. Umso größer ist die Kritik daran, dass die Medikation von Kindern und Jugendlichen mit Ritalin (Methylphenidat) seit Jahren kontinuierlich zunimmt. Eine neue Studie kommt nun jedoch zu anderen, differenzierteren Ergebnissen: Demnach hat sich die Verordnung von ADHS-Medikamenten in den vergangenen zehn Jahren zunehmend auf ältere Patientengruppen verlagert – und die Bedeutung von Ritalin nimmt ab.
Ritalin kann ohne Übertreibung als eines der umstrittensten Arzneimittel der letzten Jahre gesehen werden: Kritiker werfen der Schulmedizin vor, dass die Nebenwirkungen einer dauerhaften Einnahme für Kinder und Jugendliche oft schwerer seien als die Beeinträchtigungen, die sie durch ADHS hätten. Entsprechend groß ist auch die Kritik daran, dass die Verordnungszahlen bisher nur den Weg nach oben kannten. Im Fachjournal European Journal of Clinical Pharmacology haben nun Thomas Grimmsmann vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) in Mecklenburg-Vorpommern und Wolfgang Himmel vom Institut für Allgemeinmedizin der Universität Göttingen die Entwicklung der Verordnungen von Ritalin und anderer ADHS-Arzneimittel von 2008 bis 2018 unter die Lupe genommen und sind zu differenzierteren Ergebnissen gelangt.
Dazu haben sie die Verordnungsdaten von insgesamt 620 Arztpraxen untersucht, insgesamt 77.504 Patienten, von denen 31 Prozent weiblich sind. Fast 38 Prozent der mit ADHS diagnostizierten Patienten erhielten demnach zwischen 2008 und 2018 mindestens ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel, insgesamt 29.396 Patienten. Das mit weitem Abstand am häufigsten verordnete Arzneimittel ist dabei Methylphenidat, gefolgt von Lisdexamfetamin (Elvanse, Shire) und Atomoxetin (Strattera, Eli Lilly).
Die Entwicklung der Verordnungen sieht dabei aber anders aus als allgemein vermutet: „Die Zahl der Patienten, die ein Arzneimittel erhalten, stieg kontinuierlich bis 2012 und fiel dann langsam ab, ist aber ungleichmäßig über die Altersgruppen verteilt“, so die Autoren. So sei die Zahl der Patienten unter 16 Jahren in dem Zeitraum um 24 Prozent zurückgegangen, während die verordneten Tagesdosen (DDD) stabil bleiben. Zeitgleich ist die Zahl der Patienten zwischen 17 und 24 Jahren um 113 Prozent angestiegen und die ihnen verordneten Tagesdosen sogar um 150 Prozent. Den größten Anstieg konnten sie bei erwachsenen Patienten über 25 Jahren beobachten: Ihre Nummer stieg demnach um 355 Prozent und die Zahl der Tagesdosen um 515 Prozent.
Insgesamt sei die Zahl der Patienten mit ADHS-Medikation in den zurückliegenden Jahren allerdings erst gewachsen, dann gefallen: So stieg sie von 6613 Patienten 2008 auf 8969 im Jahr 2012 und ging dann bis 2018 auf 7533 zurück – allerdings „mit einer äußerst ungleichen Verteilung zwischen Kindern/ Jugendlichen einerseits und Erwachsenen andererseits“, so die Autoren. So sei die Zahl der Kinder unter 16 Jahren zwischen 2011 und 2018 kontinuierlich von 6767 auf 4085 gefallen, die der Erwachsenen kontinuierlich gestiegen. In der Gruppe zwischen 17 und 24 Jahren betrug die Zunahme demnach mehr als 100 Prozent, von 839 im Jahr 2008 auf 1791 im Jahr 2018. Die Gruppe der Patienten über 25 Jahren nahm sogar um über 350 Prozent zu, von 364 Patienten 2008 auf 1657 im Jahr 2018. Entsprechend stieg der Anteil der älteren Patienten: Machten die beiden älteren Gruppen 2008 noch rund 18 Prozent aller Patienten aus, die ADHS-Medikamente erhielten, waren sie 2018 mit 46 Prozent schon fast die Hälfte.
Ähnlich sehen die Zahlen der verordneten Tagesdosen aus: Sie stiegen von 1,037,210 im Jahr 2008 auf 1,537,449 im Jahr 2018 – eine Zunahme von 48 Prozent, der eine Zunahme der Patientenzahl von lediglich 14 Prozent gegenübersteht. „Die Zunahme der Zahl der DDD liegt dementsprechend in einer kontinuierlichen Zunahme der durchschnittlich verordneten DDD pro Patient von 157 DDD pro Patient und Jahr im Jahr 2008 auf 204 DDD im Jahr 2018 begründet, mit einer leicht erhöhten Zunahme unter älteren Patienten im Vergleich zu den anderen Gruppen“, so die Studie.
Dabei habe sich auch gezeigt, dass Ritalin an Bedeutung verliert. „Vor zehn Jahren erhielten rund 90 Prozent der Patienten dieses Arzneimittel, Methylphenidat war damit die dominante Substanz.“ In der Gruppe der Kinder und Jugendlichen habe der Anteil allerdings von 92 auf 81 Prozent abgenommen, betrachtet man die Zahl der verordneten Tagesdosen, sogar von 93 auf 70 Prozent. Bei den Erwachsenen war es demnach eine Abnahme von 98 auf 91 Prozent, in Tagesdosen von 99 auf 91 Prozent. Für die Studienautoren sind die Ergebnisse zwar eindeutig – Grund zur Entwarnung böten sie aber nicht. „Die stetige Zunahme der Verordnungen bei ADHS, eine große Sorge der Öffentlichkeit und vieler Wissenschaftler, hat vor einigen Jahren aufgehört und ist in einigen Gruppen sogar zurückgegangen“, schreiben sie. „Zwar sieht es so aus, als hätten die neuen Leitlinien den zunehmenden Trend zur Methylphenidat-Anwendung bei Kindern nicht weiter befördert, doch sollte man den Rückgang im Gebrauch dieser Arzneimittel nicht überbewerten. Der Rückgang war sehr klein, die Anwendung von Methylphenidat weiterhin sehr hoch.“
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