Niereninsuffizienz durch Feldarbeit dpa, 28.11.2016 16:25 Uhr
Der Tod lauert im Zuckerrohrfeld. Er rafft die Arbeiter hinweg, junge, kräftige Männer, oft noch keine 30 Jahre alt. Viele, die gerade noch einmal mit dem Leben davon gekommen sind, bleiben gezeichnet, schwer krank, arbeitsunfähig. „Wir sind wandelnde Tote“, sagt der ehemalige Zuckerrohrschneider Juan Salgado.
In Mittelamerika geht eine mysteriöse Krankheit um. Der Epidemie sind schon Zehntausende Menschen zum Opfer gefallen – mehr als an Leukämie, Diabetes und Aids zusammen. An der chronischen Niereninsuffizienz sterben vor allem die Arbeiter auf den Zuckerrohrfeldern. In der nicaraguanischen Ortschaft Chichigalpa war diese Unterfunktion der Nieren in den vergangenen zehn Jahren für 46 Prozent aller Todesfälle bei Männern verantwortlich.
Normalerweise leiden vor allem ältere Menschen in Industrieländern an chronischer Niereninsuffizienz. Auslöser sind Übergewicht, Diabetes und Bluthochdruck. In Mittelamerika hingegen sind es vor allem junge Männer, die erkranken. Fast immer arbeiten sie auf den Zuckerrohrfeldern. Deren Ertrag geht etwa als Zucker, Rum oder Bioethanol auch in die EU und nach Deutschland.
„Noch ist nicht ganz klar, was die Krankheit auslöst, aber es hat auf jeden Fall mit der Arbeit auf den Feldern zu tun“, sagt Salgado. Er hat selbst 36 Jahre lang Zuckerrohr geschnitten und ist jetzt Präsident der Fundación La Isla. Die Stiftung unterstützt erkrankte Arbeiter und treibt die Forschung über die Ursachen der unkonventionellen Niereninsuffizienz voran.
„Wir haben es mit einem Notstand im öffentlichen Gesundheitswesen zu tun, aber wir wissen noch nicht genau, was eigentlich los ist“, sagt die Biologin Rebecca Laws von der Universität Boston. Auch eine Studie, an der sie mitgearbeitet hatte, fand keine klaren Gründe. „Die meisten Forscher glauben, dass es mehrere Ursachen gibt und dass sie zumindest teilweise etwas mit den Arbeitsbedingungen zu tun haben.“
Eine Hypothese geht davon aus, dass die auf den Zuckerrohrfeldern verwendeten Pestizide für die Krankheit verantwortlich sind. Aber auch die harten Arbeitsbedingungen kommen als Ursache in Betracht. Die Männer schneiden oft zwölf Stunden lang bei bis zu 40 Grad das Zuckerrohr. Auf den Feldern gibt es kaum Schatten und nur wenig zu trinken. In Kuba beispielsweise, wo Zuckerrohr vor allem maschinell geerntet wird, ist die Krankheit noch nicht aufgetaucht.
Auch in El Salvador grassiert die Krankheit. Seit rund 15 Jahren beobachtet der Arzt Ricardo Leiva steigende Patientenzahlen. „Wenn sie zu uns ins Krankenhaus kommen, können wir oft nicht mehr viel tun. Wir müssen Präventionsarbeit leisten und die Krankheit früher diagnostizieren“, sagt der Nierenspezialist des Rosales-Hospitals.
Eine von der Zuckerindustrie in Auftrag gegebene Studie der Universität Boston kam 2010 zu dem Schluss, dass es keinen wissenschaftlichen Beweis gebe, dass die Chemikalien und Arbeitsbedingungen die Niereninsuffizienz auslösen. Der Zusammenhang sei zwar plausibel, aber noch nicht bewiesen. Dazu seien weitere Untersuchungen nötig.
Roberto Alfredo Valdivia will nicht mehr warten. Der 34-jährige ist krank und fordert Unterstützung von seinem früheren Arbeitgeber oder der Regierung. Häufig muss er sich erbrechen, er hat Schmerzen in den Gliedern und Gelenken, harte körperliche Arbeit kann er nicht mehr verrichten. „Ich bekomme von der Sozialversicherung 2800 Córdoba (87 Euro) pro Monat, aber das reicht nicht, um eine Familie zu ernähren“, sagt der Vater von zwei Jungen.
In Chichigalpa leben fast alle Familien von der Zuckerproduktion. Der größte Zuckerhersteller der Region, Ingenio San Antonio, und der Rumhersteller Flor de Caña gehören der reichen Familie Pellas. Entschädigungen will das Unternehmer den Arbeitern nicht zahlen, weiterbeschäftigt werden die erkrankten Männer aber auch nicht.
Bei Protesten von ehemaligen Arbeitern marschiert die Polizei auf. „Die Regierung will nicht, dass bekannt wird, dass die Leute hier sterben wie die Fliegen“, sagt Valdivia. Firmenchef Carlos Pellas steht dem immer autoritärer herrschenden Präsidenten Daniel Ortega nahe.
In Chichigalpa zerstört die Krankheit das soziale Gefüge. Weil die meisten Männer krank sind, können sie nicht mehr für ihre Familien sorgen. La Isla – das Dorf inmitten der Zuckerrohfelder, das der Stiftung ihren Namen gab – wird im Volksmund nur die „Insel der Witwen“ genannt.
„Viele Kranke wollen lieber sterben, als ihren Familien zur Last zu fallen“, sagt Maria Eugenia Cantillano, deren Vater an Niereninsuffizienz starb. Die hohen Medikamentenkosten treiben die Familien in den Ruin, für die teure Dialyse in der Hauptstadt Managua haben die meisten kein Geld.
„Jetzt arbeiten schon Frauen auf den Zuckerrohrfeldern, um ihre Familien durchzubringen“, sagt Cantillano. Auch sie werden krank. Chichigalpa wird langsam entvölkert. „Wir begraben hier ständig Leute, manchmal mehrere am Tag“, sagt Cantillano.