Vor der Gießener Schwurgerichtkammer steht eine Krankenschwester der Kerckhoff-Klinik in Bad Nauheim vor Gericht, weil sie mehrere Kollegen mit starken Beruhigungsmitteln vergiftet haben soll: Sie soll Kekse mit Oxazepam und Zolpidem gebacken und mit zur Arbeit gebracht haben. Die Indizien für ihre Täterschaft sind erdrückend. Trotzdem könnte sie einer Verurteilung wegen eines vorsätzlichen Tötungsdeliktes entgehen, unter anderem weil es bisher absolut keine Anhaltspunkte zu einem möglichen Motiv gibt – und eine Pflegedienstleiterin durch eine Zeugenaussage selbst ins Fadenkreuz gerückt ist.
Im Harvey-Gefäßzentrum der Kerckhoff-Klinik Bad Nauheim herrschte lange Verunsicherung: Im September 2017 waren zwei Mitarbeiter am selben Tag ohne erkennbaren Grund zusammengebrochen. Sie klagten erst über Schwindel und verloren kurz darauf das Bewusstsein. Nur wenig später, es war derselbe Monat, wiederholte sich der Vorfall: Wieder wurden zwei Mitarbeiter am selben Tag bewusstlos – einer schwebte daraufhin sogar in Lebensgefahr. Es war klar, dass etwas nicht stimmen kann. Also wurden Strafanzeigen gegen Unbekannt erstattete, die Kriminalpolizei begann zu ermitteln.
Schnell war klar: Die Mitarbeiter erlitten eine Überdosis benzodiazepinhaltiger Schlafmittel. Auch die Quelle fanden die Ermittler. Sie waren in großen Mengen Kaffee und Keksen beigemischt, die zur freien Bedienung in den Aufenthaltsräumen standen. Ein Arzt, zwei Krankenschwestern und eine Reinigungskraft hatten davon genommen und waren dann zusammengebrochen. Doch wer war verantwortlich? Eine Person, die auf der Station arbeitet, das lag nahe. Mehr fanden die Polizisten damals jedoch nicht heraus. Die Ermittlungen wurden eingestellt, anderthalb Jahre wurde die gruselige Episode zu den Akten gelegt. Bis zum März vergangenen Jahres. Erneut wurde ein Mitarbeiter vergiftet, erneut waren es Bezodiazepine in Kaffee und Keksen. Es sei nur einem glücklichen Zufall geschuldet gewesen, dass die betroffene Person nicht in Lebensgefahr geriet, berichtet die Wetterauer Zeitung vom Prozess gegen die mutmaßliche Täterin.
Denn diesmal hatten die Ermittler einen Anhaltspunkt: Durch den zeitlichen Abstand zwischen den Taten konnte der verdächtige Personenkreis erheblich eingeschränkt werden. Die Beamten mussten nur die Dienstpläne zur Zeit der drei verschiedenen Taten analysieren. „Dadurch verengte sich der Kreis möglicher Täter, es ergab sich ein Anfangsverdacht gegen die Angeschuldigte“, zitiert die Zeitung einen Kripo-Sprecher. Eine Hausdurchsuchung brachte dann stichhaltige Indizien zutage: Im Hausmüll fanden die Ermittler Oxazepam- und Zolpidem-Packungen aus der Klinik. Beide Wirkstoffe konnte die Spurensicherung auch in einem Mixer nachweisen – die Vermutung liegt nahe, dass er genutzt wurde, um die Schlafmittel dem Plätzchenteig beizumischen.
Ende September klickten die Handschellen, die 53-Jährige ging in Untersuchungshaft. Kurz darauf war Anklageerhebung wegen dreier Fälle von gefährlicher Körperverletzung, in einem Fall in Tateinheit mit versuchtem Mord. Letzterer bezieht sich auf die Tat im vergangenen März: Weil bereits zuvor eines der Opfer in Lebensgefahr schwebte, habe die Frau von der Gefahr wissen müssen, so die Staatsanwaltschaft. Im November wurde die Anklage erhoben/a>, seit März wird verhandelt. Die Krankenschwester, die seit über 30 Jahren in der Klinik arbeitet, beteuert allerdings nach wie vor ihre Unschuld. Sie habe die selbstgebackenen Kekse zwar mit auf die Station gebracht, die seien aber nicht vergiftet gewesen. Auch andere Mitarbeiter hätten schließlich von ihnen gegessen, ohne dass ihnen etwas zugestoßen sei. Außerdem herrscht bis jetzt Rätselraten um ein Tatmotiv, psychische Störungen konnten bei der Frau nämlich nicht festgestellt werden.
Und dann rückte eine Zeugenaussage vor Gericht den scheinbar offensichtlichen Fall in ein neues Licht: Eine Krankenschwester berichtete nämlich von einem Fall, der ungefähr fünf Jahre her sein soll, als die Angeklagte auf einer anderen Station arbeitete. Eine Pflegedienstleiterin habe sich über die Unordnung in den Aufenthaltsräumen aufgeregt und aus Wut eine Ampulle des Diuretikums Lasix (Furosemid) in eine herumstehende Kaffeetasse geschüttet. Eine anwesende Krankenschwester meldete das an den Stationsarzt – der sich zwar aufgeregt, es aber nicht weiterverfolgt habe. Eine Meldung der Krankenschwester sei ohne Folgen geblieben. Ausgerechnet das könnte nun dazu beitragen, dass die Angeklagte im Falle einer Verurteilung nicht wegen versuchten Mordes belangt wird, berichtet die Wittenauer Zeitung vom Prozess. Denn nicht nur herrscht weiter Rätselraten um ein mögliches Tatmotiv der Angeklagten – welches unabdingbar ist für eine Mordanklage – sondern es ist auch eine weitere Person aufgetaucht, die Arzneimittel in frei zugängliche Trinkgefäße gefüllt hat. Der Staatsanwalt hat die Anklage deswegen vorsichtshalber um fahrlässige Körperverletzung und Inverkehrbringen von Betäubungsmitteln erweitert.
Auch für die Pflegedienstleiterin hat die Episode nun ein Nachspiel: Sie war nämlich vor Gericht befragt worden und sagte, dass sie sich an den Vorfall nicht erinnern könne. Direkt nach der Vernehmung soll sie jedoch einen Arzt und die Krankenschwester aus dem Zeugenstand angerufen haben, um sie zu bitten, sich vor Gericht ebenfalls nicht daran zu erinnern. Die Staatsanwaltschaft will nun Ermittlungen wegen uneidlicher Falschaussage vor Gericht gegen sie aufnehmen – und möglicherweise auch wegen gefährlicher Körperverletzung.
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