Ganze Fachabteilungen fahnden bei den Kassen nach Abrechnungsbetrügern. Laut GKV-Spitzenverband wurden 2022/2023 alleine im Arznei- und Verbandmittelbereich knapp 86 Millionen Euro ermittelt, die zu Unrecht gezahlt wurden. Von den fast 37 Millionen Euro, die gesichert werden konnten, entfällt der Löwenanteil auf einen einzigen Fall.
Im März 2018 erhielten mehrere Krankenkassen einen anonymen Hinweis, dass es bei einem Wundversorgungsdienstleister zu Abrechnungsbetrug komme, indem eine systematische, nicht leitliniengerechte und gewerbsmäßige „Überbelieferung“ erfolge. Zwei Monate später erhielt die AOK Rheinland/Hamburg einen weiteren anonymen Hinweis durch eine ehemalige Mitarbeiterin des Unternehmens, die bestätigte, dass nicht alle abgerechneten Produkte an die Versicherten geliefert worden seien. Es erfolge nur eine Auslieferung in kleinen Mengen, Überschüsse würden in Schütten gelagert, die mit den Namen der Versicherten versehen seien.
Bei Prüfung der Verdachtsmomente stellten die Kassen in einer Vielzahl Auffälligkeiten fest. So seien Ärztinnen und Ärzte aufgefordert worden, Produkte zu verordnen, die der oder die Versicherte eigentlich gar nicht oder teilweise nicht mehr benötigte. Offenbar kalkulierte man darauf, dass die Praxen der Anfrage vertrauten und ihr nachkämen.
Wie von den beiden Hinweisgebenden geschildert, wurden nicht alle verordneten und vom Dienstleister abgerechneten Produkte an die Versicherten ausgeliefert. Stattdessen lagerte das Unternehmen die Produkte ein – in einer, wie in der Einwilligungserklärung vorgesehen, mit einem Deckel verschlossenen, personifizierten Box gemäß den Herstellervorgaben.
Im Februar 2019 informierte die AOK die Staatsanwaltschaft Lübeck; aufgrund des Anfangsverdachts erfolgten 2021 schließlich Durchsuchungsmaßnahmen.
Im August 2022 wurde das Unternehmen verkauft; die neue Geschäftsführung erfuhr nach eigenen Angaben durch Zufall, dass zuvor im Unternehmen staatsanwaltschaftliche Durchsuchungsmaßnahmen erfolgten. Eigene Nachforschungen bestätigten Anhaltspunkte für abrechnungsrelevante Unregelmäßigkeiten. Eine Kanzlei wurde mit Aufklärung des Sachverhalts beauftragt und stellte massive Diskrepanzen zwischen den Bestellmengen beim Großhändler und mit den Krankenkassen abgerechneten Mengen von Wundversorgungsprodukten fest: In Summe wurde der Schaden auf mehr 29 Millionen Euro beziffert.
Das Management signalisierte schließlich, den Krankenkassen den unter der alten Geschäftsführung entstandenen Schaden vollständig zu kompensieren. Federführend für alle 61 betroffenen Krankenkassen verhandelt die AOK Bayern schließlich einen entsprechenden Vergleich – den größten Einzelregress in der fast 20-jährigen Geschichte der Fehlverhaltensbekämpfung. Das Strafverfahren gegen die alte Geschäftsführung ist bis dato immer noch anhängig.