Eigentlich ist es nicht vorstellbar, dass Ärzte, Pfleger und Klinikleitung bewusst wegschauten und einen Mörder gewähren ließen. Es widerspricht jedem Empfinden. Doch genau um diesen Vorwurf geht es in einem Prozess am Landgericht Oldenburg.
Seinen letzten Mord beging Ex-Pfleger Niels Högel eine halbe Stunde vor seinem Urlaubsantritt. Das Opfer: Eine 67-jährige Patientin, die mit schwerster Atemnot auf die Intensivstation in die Klinik Delmenhorst gebracht wurde. Noch während Pflegekräfte die Frau vorbereiteten und an Apparate anschlossen, spritzte Högel ihr das Medikament Sotalex. Er habe sie totgespritzt, so Högel, der als Zeuge aussagt im Prozess gegen sieben angeklagte Ex-Vorgesetzte. Sie sollen den Mörder trotz Hinweisen auf die Verbrechen nicht gestoppt haben, lautet der Vorwurf der Anklage.
Für den Mord an der 67-Jährigen – und für 84 weitere Morde – wurde Högel 2019 zu lebenslanger Haft verurteilt. Erstmals steht er in dem am 17. Februar begonnenen Prozess als Zeuge vor Gericht, am Dienstag bereits am dritten Tage in Folge in einem stundenlangen scharfen Kreuzverhör. Die sieben Angeklagten sind durch 18 Verteidiger vertreten. Für ihre Mandanten geht es um viel. Sie sind der Beihilfe zum Totschlag beziehungsweise versuchten Totschlag durch Unterlassen angeklagt.
Richter Sebastian Bührmann betonte die Unschuldsvermutung. „Jeder Angeklagte hat als unschuldig zu gelten, bis rechtskräftig etwas anders festgestellt ist.” Aus Sicht der Staatsanwaltschaft hätten sie Mordtaten Högels mit an «Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit» verhindern können. Sie seien aber nicht eingeschritten aus Sorge um die Reputation der Kliniken und aus Angst, sich dem Vorwurf des Mobbings und der falschen Verdächtigung auszusetzen.
Alle Vorwürfe und Taten müssen neu eingebracht werden. Deswegen wird Högel auch immer wieder zu Taten befragt, für die er längst verurteilt wurde. „Die Uhren stehen auf null”, sagte Bührmann auch am Dienstag. Es geht im laufenden Prozess um acht Fälle: drei Morde im Oldenburger Klinikum sowie drei Morde und zwei Mordversuche in Delmenhorst. Högel tötete seine Opfer von 2000 bis 2005 zunächst in Oldenburg und dann in Delmenhorst.
An seinen letzten Mordfall am 24. Juni 2005 in Delmenhorst könne er sich erinnern, so Högel. Es war am Ende der Spätschicht und an seinem letzten Arbeitstag vor dem Urlaub, den er mit der Familie in den Niederlanden verbringen wollte. Das Herzmittel Sotalex spritzte er der Patientin in den linken Unterarm. „Der Zustand verschlechterte sich schnell”, sagte der 45-jährige Deutsche. „Ich erinnere mich, dass relativ zeitnah und zügig der Tod festgestellt wurde.” Dies habe ihn überrascht. Es sei eine Notfallsituation gewesen, die er „perfiderweise” ausgenutzt habe. Er schildert dabei auch eine seltsame Situation. Als er damals aus dem Patientenzimmer seines Opfers geht, waren auch eine Schwester und ein Pfleger in dem Raum. Der Pfleger, mit dem Högel auch in Oldenburg zusammen arbeitete, habe dann gesagt: „Der selbe Scheiß wie in Oldenburg.” Auch dort spritzte Högel zahlreiche Patienten zu Tode.
Bei den sieben Angeklagten handelt es sich um drei Ärzte, drei leitende Pflegerinnen und Pfleger und einen Ex-Klinik-Geschäftsführer der Kliniken Oldenburg und Delmenhorst. Die Anwälte weisen die Vorwürfe gegen sie als absurd und monströs zurück und weisen auf massive Zweifel an Högels Glaubwürdigkeit hin. Für den Prozess sind bis Ende November insgesamt 42 Verhandlungstage angesetzt. Er soll am Mittwoch mit dem fünften Prozesstag und der weiteren Vernehmung Högels fortgesetzt werden. Gegen einen weiteren Angeklagten, einen Pflegeleiter aus Delmenhorst, wurde das Verfahren aus gesundheitlichen Gründen abgetrennt.
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