Die Vogelgrippe grassierte hierzulande im Sommer heftiger als sonst zu dieser Jahreszeit. Sie bedroht ganze Seevögel-Bestände. Für Menschen war der grassierende Erreger zuletzt zwar eher harmlos, aber Sorge besteht dennoch.
Tote Vögel, verlassene Nester, verhungerte Jungtiere: Die Vogelgrippe hinterlässt in diesem Jahr besonders düstere Bilder – und das zu einer ungewohnten Zeit. Das Infektionsgeschehen habe „eine ganz neue Qualität“, sagt der Leiter des Nationalen Referenzlabors für Aviäre Influenza am Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) bei Greifswald. Timm Harder geht allein für die Nordsee davon aus, dass Zehntausende Vögel dem Virus zum Opfer gefallen sind. Eine große Sommerwelle habe Seevogel-Kolonien erfasst. An der Nordsee seien vor allem Seeschwalben, aber auch Hochseevögel wie etwa Basstölpel betroffen. An der Ostsee seien es vor allem Kormorane, aber auch Lachmöwen.
Nicht nur im deutschen Bereich der Nord- und Ostsee habe es ein massives Infektionsgeschehen gegeben, sondern auch auf den Britischen Inseln und in Skandinavien bis nach Island. Und auch jenseits von Europa. „Gesamt Nordamerika ist von diesem Virus ebenfalls überschwemmt.“ Man könne von einer echten Pandemie bei Wildvögeln sprechen, sagt Harder.
Nach Aussage von Martin Rümmler, Referent für Vogelschutz beim Naturschutzbund Deutschland (Nabu), bedroht die Vogelgrippe mindestens Bestände, wenn nicht das Vorkommen ganzer Arten in Deutschland. „Das hat das Potenzial, definitiv.“ Er nennt den Basstölpel, der in Deutschland nur auf Helgoland brüte. „Das heißt, wenn die Kolonie erlischt, ist die Art für Deutschland ausgestorben.“ Er verweist auf Schätzungen des dortigen Vogelschutzvereins Jordsand, denen zufolge 70 bis 80 Prozent der dortigen Nester in diesem Jahr frühzeitig verlassen wurden. Genaue Erhebungen seien schwierig. Elterntiere sterben laut Rümmler häufig unterwegs, wenn sie etwa auf Nahrungssuche sind. Man könne die Folgen erst im kommenden Jahr wirklich abschätzen. „Wenn man sieht, wie viele Alttiere zurückkommen, wie viele wieder anfangen, zu brüten.“
Laut Harder waren in Deutschland im Sommer vor allem Schleswig-Holstein und Niedersachsen betroffen. In Mecklenburg-Vorpommern habe es zuletzt weniger Nachweise gegeben. Bedingt durch den Vogelzug sei es in der Vergangenheit vor allem von Oktober bis April zu Ausbrüchen gekommen. Im Sommer 2021 habe es nur Einzelfälle gegeben. Ein Infektionsgeschehen mit dem Ausmaß wie im aktuellen Sommer beobachte man zum ersten Mal.
Kann man diese Pandemie überhaupt noch eindämmen? Der Experte ist pessimistisch. Zwar könne man infizierte Kadaver schnell einsammeln, um weitere Infektionen zu verhindern. Aber: „Das Virus kann auf diese Art und Weise sicherlich nicht mehr eingedämmt werden.“ Es bleibe zu hoffen, dass sich künftig weniger tödliche Virusformen durchsetzten.
Dafür fehlten bisher aber die Anzeichen. „Insofern kommt natürlich so eine Pandemie auch dann zum Erlöschen, wenn es keine empfänglichen Wirte mehr gibt.“ Das könne der Fall sein, wenn nicht mehr genügend Tiere übrig seien oder sie eine Immunität entwickelten. Dazu gebe es aber noch keine gesicherten Erkenntnisse.
Immerhin ist das derzeitige Virus laut Harder für den Menschen eher ungefährlich. Ihm seien nur zwei Infektionen bei Menschen bekannt: Eine aus England und eine aus den USA, beide ohne ernsthafte Erkrankung. „Aber was uns warnen sollte, sind doch eine Reihe von Fällen bei Säugetieren mit genau diesem Virus.“ Füchse, Marder, Otter oder zuletzt auch ein Schwarzbär seien gestorben. Bei engem Kontakt bestehe auch für Säugetiere das Risiko einer tödlichen Infektion. Daher müssten sich etwa Vogelwarte entsprechend schützen.
In der Vergangenheit habe es auch beim Menschen Todesfälle gegeben – vor allem in Südostasien oder Ägypten. Dabei habe es sich aber um eine andere Virusart als die derzeit dominante gehandelt. Mehr als 2000 Menschen hätten sich infiziert, von denen etwa 30 Prozent gestorben seien. Obwohl es sich bei Mensch-zu-Mensch-Ansteckungen um sehr seltene Ausnahmen handele, bestehe die große Sorge, dass auch solche Erreger Pandemien beim Menschen verursachen könnten.
Hier bestehen durchaus Parallelen zum Coronavirus. Der erste Vorläufer der heute noch grassierenden Vogelgrippeviren sei 1996 in China nachgewiesen worden – bei Hausgeflügel, sagt Harder. Die Art, wie in Asien Geflügel gehalten und gehandelt werde, etwa auf Märkten mit lebenden Tieren, habe Nischen und Verbreitungswege für neue Influenzaviren geschaffen.
Rümmler fordert den Verzicht auf Massentierhaltung. Große Haltungen sollten schon gar nicht in der Nähe von Schutzgebieten oder bekannten Vogelrastplätzen liegen. Auch das weltweite Monitoring des Infektionsgeschehens sowie der internationale Informationsaustausch müssten verbessert werden. „Selbst auf EU-Ebene ist es nicht einfach, an aussagekräftige Daten zu kommen.“ Harder sieht Europa bei der Vogelgrippe teilweise an einem Kipppunkt. In der französischen Enten- oder bulgarischen Gänseproduktion habe es so viele Ausbrüche gegeben, „dass man die eigentlich auf die bewährte Art und Weise nicht mehr in den Griff bekommt“.
Deshalb überlege man, Impfungen auch in Europa zu erlauben – wie es in manchen asiatischen Ländern möglich sei. Dagegen sprächen etwa der hohe Kontroll- und Finanzaufwand. Außerdem setze man das Virus unter Druck, sich zu verändern. Von deutschen Produzenten lägen bereits Anfragen zu Impfungen vor. „Ich denke, das wird in den nächsten Monaten und Jahren sicherlich verstärkt diskutiert werden.“
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