Ärztinnen und Ärzte, die für ihre Unterschrift einen Stempel nutzen, müssen mit dem Schlimmsten rechnen: Zwei Sozialgerichte (SG) kamen unabhängig voneinander zu dem Ergebnis, dass die Rezepte damit ungültig waren, und nahmen die Praxen für das komplette Verordnungsvolumen in Regress. Einmal geht es um 740.000 Euro, im zweiten Fall um 491.000 Euro.
Das SG Dortmund wies die Klage einer 65-jährigen Fachärztin für Psychiatrie ab, die sich gegen Regresse in Höhe von 740.000 Euro wehrte. Sie hatte seit 2013 einen Großteil der Arznei- und Hilfsmittelverordnungen nicht mehr mit einer eigenhändigen Unterschrift versehen; stattdessen wurde – teils von ihr, teils vom Praxispersonal – entweder ein Paraphen- oder ein Unterschriftstempel aufgebracht.
Im Zusammenhang mit einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren im Jahr 2017 erfuhren die Kassen davon und stellten schließlich Prüfungsanträge bezogen auf die bisherigen Abrechnungen. Tatsächlich stellte die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkassen in Westfalen-Lippe einen sonstigen Schaden fest und erließ Regresse in Höhe der gesamten Verordnungskosten.
Die Ärztin klagte dagegen und argumentierte, dass sie die Stempel erstmals genutzt habe, als sie 2013 übergangsweise auf einen Rollstuhl angewiesen gewesen sei. Seitdem habe sich die Verwendung eingeschlichen, auch wegen eines bei ihr vorhandenen Tremors. Im Vorfeld sämtlicher Verordnungen habe sie sich aber persönlich vom Gesundheitszustand des jeweiligen Patienten überzeugt. Folgerezepte seien nur ausgestellt worden, wenn eine weitere Vorstellung aufgrund gesicherter Diagnose entbehrlich gewesen sei.
Die Regresse seien angesichts ihres Lebensalters und ihrer finanziellen Verhältnisse unverhältnismäßig, zumal ihr die Insolvenz und der Verlust der Approbation drohten. Sie seien zudem rechtsmissbräuchlich, weil sie von den Krankenkassen nie auf die Rechtswidrigkeit der Verwendung der Stempel hingewiesen worden sei. Die Forderungen seien verjährt.
Das SG wies die Klage ab. Ohne persönliche Unterschrift des Arztes handele es sich um eine fehlerhafte Verordnung: „Dabei ist es unerheblich, ob der Arzt die der Ausstellung vorgelagerte Entscheidung über die Verordnung selbst getroffen hat.“ Die eigenhändige Unterschrift des Arztes sei nach § 2 Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) ausdrücklich vorgesehen und stehe damit im Zusammenhang mit dem Gebot der persönlichen Leistungserbringung. „Demgemäß ist ein sonstiger Schaden angenommen worden, wenn die Verordnung gar nicht, von einem nicht vertretungsberechtigten Krankenhausarzt oder von einer Arzthelferin mit dem Zusatz ‚im Auftrag‘ unterschrieben wurde.“
„Ein Faksimilestempel stellt auch dann keine eigenhändige Unterschrift dar, wenn er von der Person aufgebracht wird, deren Unterschrift er wiedergibt.“ Denn nur durch die eigenhändige Unterschrift werde die Authentizität der Verordnung und ihre Ausstellung durch eine dazu berechtigte Person sichergestellt. Anderenfalls sei nicht genügend zu erkennen, dass „der ausstellende Arzt der Verordnung letztendlich die entscheidende Gültigkeit verleihen will“.
Eine 2019 in Kraft getretene Neuregelung, der zufolge Nachforderungen auf die Differenz zwischen den wirtschaftlichen und den tatsächlichen Leistungen zu begrenzen sind (§ 106b Abs. 2a SGB V) sei hier nicht anwendbar, da diese nur die Unwirtschaftlichkeit bei der Auswahl eines konkreten Arzneimittels, nicht aber sonstige Pflichtverletzungen wie Verstöße gegen das Gebot persönlicher Leistungserbringung betreffe.
Ebenso sei unerheblich, ob eine Retaxierung gegenüber den Apothekern hätte erfolgen können. „Im Rahmen des normativen Schadensbegriffs ist eine Retaxierung nur dann beachtlich, wenn diese tatsächlich erfolgt ist“, so das SG. „Das ist vorliegend nicht geschehen.“
Die Kassen treffe auch kein Mitverschulden: „Angesichts der Vielzahl der Arznei- und Heilmittelverordnungen, die jeden Tag eingelöst werden, kann eine Prüfung, ob die auf den zu Abrechnungszwecken eingereichten Images erkennbare Unterschrift eigenhändig vollzogen oder mithilfe eines Stempels aufgebracht wurde, von den Krankenkassen nicht erwartet werden. Das gilt umso mehr, als die Verwendung eines Stempels anhand der Images vorliegend nur erkennbar wird, wenn eine Vielzahl von Images betrachtet und auf (fehlende) Unterschiede bei der Unterschrift hin untersucht wird.“
Auch für Nachsicht sah das SG keinen Raum: „Einer etwaigen Unverhältnismäßigkeit, die das Gericht angesichts des hohen Stellenwerts des Gebots persönlicher Leistungserbringung allerdings nicht zu erkennen vermag, kann durch Anwendung der Vorschriften über Stundung, Niederschlagung und Erlass nachfolgend ausreichend Rechnung getragen werden.“ Darüber hinaus stehe der Prüfstelle kein Ermessensspielraum zu.
Auch seien die Ansprüche nicht verjährt, da die Kassen überhaupt erst 2017 von den Vorgängen erfahren hätten. 2019 sei erstmals Praxispersonal dazu vernommen worden, 2020 habe eine Durchsuchung zur Beschlagnahme der Faksimilestempel stattgefunden. Die Prüfanträge wurden in den Jahren 2020 und 2021 und somit noch innerhalb der vierjährigen Verjährungsfrist gestellt.
Bereits im Juli war das SG Marburg in einem anderen Fall zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Ein Kardiologe hatte von 2015 bis 2018 seine Verordnungen gestempelt und dies im Verfahren auch eingeräumt. Allerdings sei den Krankenkassen kein Schaden entstanden, da sie bei formal ordnungsgemäßer Verordnung in identischer Höhe wirtschaftlich belastet worden wären. Er habe auch keinen wirtschaftlichen Vorteil erzielt; es würden Gelder zurückgefordert, die ihm nie zugeflossen seien.
Für die Rückforderung von insgesamt 491.000 Euro gebe es auch gar keine Rechtsgrundlage: Die persönliche Unterschrift sei nicht im Gesetz geregelt, sondern lediglich im Bundesmantelvertrag (BMV-Ä). Wenn die persönliche Unterschrift derart weitgehende Konsequenzen nach sich ziehen könne, hätte der Gesetzgeber dies und die Konsequenzen in einer Rechtsgrundlage festlegen müssen.
Abseits von der fehlerhaften Unterschrift seien die Verordnungen medizinisch indiziert und entsprächen den übrigen rechtlichen Voraussetzungen. Das sei zwischen allen Beteiligten unstreitig. Vielmehr sei die Rückforderung sogar rechtsmissbräuchlich, da die Krankenkassen bei einem Vollregress immer ein Interesse an Verstößen des Vertragsarztes hätten, da sie hierdurch ohne Aufbringung eigener finanzieller Mittel von ihrer eigenen Leistungspflicht gegenüber den eigenen Versicherten befreit würden.
Das SG ließ ihn abblitzen: Die Regelungen des BMV-Ä, der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) und der Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) müsse jeder Vertragsarzt kennen; so liege zumindest ein fahrlässiges Verhalten vor. Krankenkassen aber seien vor diesem Hintergrund schutzbedürftig, da sie keine unmittelbare Rechtsbeziehung zu den Praxen hätten.
Auch ohne echten finanziellen Nachteil sei ein normativer Schaden entstanden, da zwingende Gründe die Einhaltung von formalen oder inhaltlichen Voraussetzungen erforderten: „Im Vertragsarztrecht ist kein Raum, einen Verstoß gegen Gebote und Verbote, die nicht bloße Ordnungsvorschriften betreffen, durch Berücksichtigung eines hypothetischen alternativen Geschehensablaufs als unbeachtlich anzusehen; denn damit würde das vertragsarztrechtliche Ordnungssystem relativiert.“
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