Mauerfall

Treuhand-Apotheken und Transit-Medikamente

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Berlin -

„Das tritt nach meiner Kenntnis... ist das sofort, unverzüglich.“ Diese Worte von Günter Schabowski zur Neuregelung der Ausreisebestimmungen aus der DDR sorgten am 9. November 1989 dafür, dass noch am selben Abend die Mauer fiel. In Ost und West sind diese Nacht und die folgenden Wochen den Menschen im Gedächtnis geblieben. Für APOTHEKE ADHOC haben bekannte Personen aus der Branche ihre ganz persönlichen Erinnerungen und Anekdoten aufgeschrieben.

Friedrich Neukirch, Klosterfrau
Aufbau Apotheke-Ost: „Wir wollten dabei sein“

Ein denkwürdiges und nie mehr vergessenes Datum. Noch zu Zeiten vor 1974 (Aufhebung der Preisbindung der zweiten Hand), als rund 13.300 Drogerien existierten, gab es bei der Bezahlung der Lieferrechnungen das geflügelte Wort: „Bezahlt wird nach Wiedervereinigung“. Die Mehrheit der Bevölkerung glaubte kaum daran, dass es jemals zu dieser Wiedervereinigung kommen würde.

Anfang des Jahres 1990 nahmen wir erstmals mit dem Großhandel Madro Kontakt auf, luden ihn nach Köln zu einem Gespräch ein und tätigten den ersten Auftrag zur Lieferung in die DDR. Die Bestellung war so groß, dass wir im Interesse des Kunden kürzten, da man keinen Bezug zur Menge und Absatzchance hatte. Zuerst mussten wir aber in Ostberlin ein Konto eröffnen, da die Bezahlung nicht nach Westdeutschland gehen konnte, sondern auf ein Konto einer ostdeutschen Bank fließen musste. Am Anfang wussten wir auch nicht, ob und wie wir unser Geld überhaupt bekommen würden, aber wir wollten dabei sein beim Aufbau des ostdeutschen Apothekenmarktes.

Ich erinnere mich noch genau daran, dass wir im Gegensatz zu manch anderen Industrieunternehmen nicht die Unkenntnis der Warendisposition ausnutzten, sondern ganz im Gegenteil – wir schenkten allen Apotheken sogar zur besseren Einschätzung einen mit neo-angin gefüllten Zahlteller, damit diese anschließend anhand ihrer Erfahrungswerte Ware nachdisponieren konnten.

Wir stellten dann auch sofort Außendienstmitarbeiter aus den Neuen Bundesländern ein, da sie mit der Mentalität besser kommunizieren konnten. Übrigens bekamen wir unser Geld nach der Währungsunion im Juli 3:1 wieder ausbezahlt. Heute sind wir aufgrund dieser sensiblen Vorgehensweise mit vielen unserer Marken Marktführer in den Neuen Bundesländern. Der damit beendete „Kalte Krieg“ zählt für mich als eines der größten Ereignisse meines Lebens. Frieden und Freiheit ist eines der wertvollsten Güter der Menschheit.

Rechtsanwalt Dr. iur. Johannes Pieck, damals Sprecher der ABDA-Geschäftsführung
Nur ein Gespräch mit DDR-Beamten

Was ist Ihre eindrücklichste Erinnerung an den 9. November 1989?
Am 9. November 1989 habe ich ab den ZDF-Nachrichten um 19 Uhr (Schabowski!) bis weit nach Mitternacht mit Erstaunen, Erschütterung und mit unbändiger Freude vor dem Fernseher gesessen, und immer wieder mit Freunden und Verwandten telefoniert. Da alle Fernsehkanäle am nächsten Tag ohne Unterbrechung live aus Berlin und von Grenzübergängen DDR/Bundesrepublik Deutschland berichteten, habe ich ab Mittag allen Mitarbeitern im Deutschen Apothekerhaus am Frankfurter Beethovenplatz freigegeben: „Heute ist fernsehen wichtiger als arbeiten.“

Wie war der erste berufliche Kontakt zum Osten?
Nachdem Vertreter von Apothekerkammern und -vereinen schon seit November/Dezember 1989 mit einzelnen Apothekerinnen und Apothekern in der DDR Verbindung aufgenommen hatten, in die sich auch die ABDA einklinkte, fand am 27. Februar 1990 ein erstes (und letztes) Gespräch mit Funktionären des Gesundheitsministeriums der DDR in Ostberlin statt.

Keine der beiden Seiten sprach zu diesem Zeitpunkt ausdrücklich von der Wiedervereinigung, aber allein die Diskussion über das (damals noch verstaatlichte) schwedische Apothekenwesen als künftiges Vorbild für das Gebiet der damaligen DDR machte deutlich, wie das Ministerium sich die Zukunft des Apothekenwesens in der DDR auch in einem wiedervereinigten Deutschland vorstellen wollte.

Am 17. und 19. Mai 1990 haben der damalige Präsident der Bayerischen Landesapothekerkammer, Dr. Hermann Vogel, und ich in Rostock und in Halle vor jeweils mehreren hundert Apothekerinnen und Apothekern unsere Vorstellungen über ein künftig einheitliches Apothekenrecht in einem wiedervereinigten Deutschland vorgetragen – mit überwältigender Zustimmung der Zuhörer.

Am 20. Mai 1990 habe ich meinen Vortrag inhaltsgleich auf dem Fortbildungskongress der Bundesapothekerkammer in Meran wiederholt – mit überwältigender Zustimmung der Zuhörer, ungeachtet ablehnender Zwischenrufe eines einzelnen Apothekers aus Sachsen. Das Tonband dieses Vortrags bewahre ich noch heute auf, in dankbarer Erinnerung an diese politische und emotional bewegende Zeit.

Welche Unterschiede zwischen Ost und West, die erfolgreich überwunden wurden oder noch existieren, finden Sie besonders bemerkenswert?
Mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 trat in den neuen Bundesländern das bundesdeutsche Apothekengesetz in Kraft – wiederum mit großer Zustimmung der großen Mehrheit der Apothekerinnen und Apotheker im Osten und Westen Deutschlands.

Die Apotheken wurden zügig durch die Treuhand privatisiert, fast ausschließlich zu Gunsten der jeweiligen bisher angestellten Apothekenleiter. Dass sich zugleich Apotheker aus den alten Bundesländern in den neuen frei niederlassen konnten, fand allerdings nicht die Zustimmung all ihrer Kollegen in der früheren DDR.

Die Privatisierung der Apotheken war eine der wenigen ökonomischen und ordnungspolitischen Erfolge der Treuhand. Dass seither die Apotheker in den neuen Bundesländern uneingeschränkt von den Maßnahmen, Eingriffen und Beschränkungen der bundesdeutschen Gesetzgebung betroffen sind, mag bedauerlich erscheinen, ist aber unausweichlich und im Vergleich zu den früheren Bedingungen für DDR-Apotheken gewiss akzeptabel.

Hanns-Heinrich Kehr, Richard Kehr
„Schon wieder so ein Westanzug!“

Ich kam am Abend per Auto von einem Pharma-Privat-Treffen aus Hamburg und wunderte mich auf der A2 zwischen Hannover und Braunschweig über die häufigen Trabbis und Wartburgs, die mir auf der normalerweise wenig befahrenen Autobahn entgegenkamen. Meine Frau klärte mich dann per Telefon auf und schilderte mir die Bilder aus dem Fernsehen.

Am nächsten Tag war ganz Braunschweig überschwemmt von Landsleuten aus Sachsen-Anhalt. Ich werde diese Stimmung von Nähe zu fremden Menschen, die Freude und gegenseitige Neugier und Hilfsbereitschaft nie vergessen. Wir haben uns übrigens amüsiert, dass in den Parkhäusern die Brandmeldeanlagen immer wieder losgingen, wenn ein Trabbi rein- oder rausfuhr.

Unsere Firma stammt aus Halberstadt, wo sie 1924 von unserem Großvater übernommen wurde. Da war es fast selbstverständlich, dass wir sofort mit einzelnen Apothekern von dort Kontakte hatten. Der erste noch private Apotheker sagte: „Ich bin von Ihrem Großvater beliefert worden und möchte so schnell wie möglich wieder von Ihnen beliefert werden!“

Sämtliche Apotheker des Pharmazeutischen Zentrums Halberstadt waren bereits im November bei uns in Braunschweig zu Gast. Junge Apotheker aus Magdeburg kamen vorbei und nahmen von uns alte Regale für den Aufbau einer Freiwahl in ihrer Apotheke mit. Ich bin noch heute mit ihnen nicht nur geschäftlich, sondern auch freundschaftlich verbunden.

Wir haben viele Apotheker ermuntert, in die Selbständigkeit zu gehen und sie betriebswirtschaftlich wie auch steuerlich beraten! Pharmazeutisch waren die ApothekerInnen sehr gut ausgebildet und trugen durch die tägliche Improvisation, die nötig war um die Patienten zu versorgen, noch mehr Verantwortung durch die größeren Entscheidungsspielräume. Sie waren mehr dem Patienten als der Krankenkasse gegenüber verpflichtet, was man es sich heute für den Berufsstand wieder mehr wünschen würde.

Die anfänglichen Ossi/Wessi-Unterschiede sind weitgehend verwischt und heute unterscheiden wir uns wieder durch landsmannschaftliche Eigenheiten, wie sie auch vor der DDR schon bestanden.

Aus einem meiner Besuche in einer Apotheke in Staßfurt ist mir die Episode in Erinnerung, wie mich eine Mitarbeiterin in der Offizin kritisch musterte und mich dann bei ihrer Chefin mit den leisen Worten ankündigte: „Schon wieder so ein Westanzug!“. Ebenso habe ich mich dann bei der Apothekerin vorgestellt und das Eis war gebrochen!

Dr. Hermann Vogel sr., damals Präsident der Bayerischen Landesapothekerkammer
„Zwischen all den grauen Häusern war wieder Farbe“

Was ist Ihre eindrücklichste Erinnerung an den 9. November 1989?
An den Abend selber kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich weiß noch gut, dass wir sofort tätig geworden sind: Dr. Helmut Simon, Mitglied des Kammervorstandes, kannte etliche DDR-Kollegen aus der Krankenhauspharmazie. Über sie erhielt er Kontakte und Empfehlungen zu deren Kollegen aus der Apothekenpraxis, namentlich Dr. Helmut Wittig. Diese Kollegen haben wir am 19. Dezember 1989 nach München eingeladen, am 23. Januar 1990 an der Kammervorstandssitzung teilzunehmen.

Wie war der erste berufliche Kontakt zum Osten?
Eben dieser Besuch im Januar 1990 von Thüringer und sächsischen Kollegen. Es war von Anbeginn herzlich, unvoreingenommen, aufgeschlossen, lustig. Sodann gab es eine wichtige Zusammenkunft am 17. Februar 1990 in Kulmbach. Hier wurden die Entwürfe für Satzungen von Kammer und Verband, die Notwendigkeit eines Altersversorgungswerkes etc. erörtert und niedergeschrieben.

Dieses sogenannte Kulmbacher Papier war dann schon am 19. Februar 1990 Beratungsgegenstand in einer Sitzung des eben gegründeten DDR-Apothekerverbandes in der Charité in Berlin. Und das Papier ist dann auch eingegangen in die Formulierungen des deutschen Einigungsvertrages. Es hatte damals nämlich durchaus auch Überlegungen gegeben, andere Modelle in den neuen Bundesländern zu etablieren (Schwedisches Modell etc.) – dann hätte es jeweils zweierlei Apothekenrecht in Deutschland gegeben. Hierzu waren durchaus diverse Sympathien auch in westdeutschen politischen Kreisen vorhanden.

Welche Unterschiede zwischen Ost und West, die erfolgreich überwunden wurden oder noch existieren, finden Sie besonders bemerkenswert?
Ich glaube, dass es eher keine Unterschiede mehr gibt. Für uns war und blieb äußerst bemerkenswert, wie schnell und aufgeschlossen die Kollegen aus Thüringen und Sachsen mit der gegebenen schwierigen Aufgabe der Privatisierung sachverständig fertig wurden.

Letztlich hat in den neuen Bundesländern die Apothekerschaft sehr viel zu den versprochenen „blühenden Landschaften“ beigetragen, denn durch die schnelle Privatisierung konnten sie schnell Kapital beschaffen und ihre Apotheken modernisieren und die Häuser renovieren. Das hat ganz generell eine psychologische Rolle gespielt für den „optischen“ Neubeginn, das erneuerte Erscheinungsbild von Orten und Städten. Zwischen all den grauen Häusern war wieder Farbe.

Schon beim bald folgenden Bayerischen Apothekertag 1990 in Lindau und beim darauffolgenden Bayerischen Apothekertag 1991 in Coburg (nach Nordbayern verlegt, damit viele Thüringer Kollegen teilnehmen konnten und teilgenommen haben) waren die „neuen“ Kolleginnen und Kollegen gern begrüßte und willkommene Teilnehmer. Hier ist schnell zusammengewachsen, was zusammengehört. Das Motto im Dezember 1989 und in der folgenden Zeit war stets „Hilfe zur Selbsthilfe“. Es sind zwischen den Vorständen und Geschäftsführungen der Kammern und Verbände bis heute bestehende Freundschaften entstanden.

Dr. Fritz Oesterle, damals Anwalt, später Vorstandsvorsitzender Celesio
West-Klamotten für den Ost-Büroleiter

Mein erster beruflicher Kontakt: Wir kämpften 1990 für einen Apotheker in Leipzig und einen in Dresden, denen die Treuhand ihre lange geführten Apotheken abspenstig machen wollte. Später erstellten wir gemeinsam mit ihnen die erste D-Mark-Eröffnungsbilanz.

In Erinnerung geblieben sind mir die Reaktionen, wenn ich mit meinem riesigen C-Netz-Telefon in mein Hotel in Leipzig marschiert bin. Das riesige Gerät war zwar unhandlich, aber mein Versuch, den Kontakt zur Heimat nicht zu verlieren. Auf jeden Fall hat der Kasten die Leute beeindruckt.

Wir hatten in der Anfangszeit ein eigenes Büro in Leipzig. Die Sekretärin kannte einen Juristen, der uns in Stuttgart besuchte. Als Erstes bin ich mit ihm zu Breuninger einkaufen gegangen – Westklamotten. Das war das einzige Mal in meinem Leben, dass ich einen erwachsenen Mann eingekleidet habe.

In der ehemaligen DDR war ich nie – aus weltanschaulichen Gründen: Mit mir war kein Zwangsumtausch zu machen.

Unterschiede, die ich noch beobachte: Die Leute im Osten stehen morgens früher auf. Und es gibt eine noch größere Versorgungsmentalität als im Westen, von der Kinderkrippe angefangen über die Poliklinik bis hin zur Altersvorsorge. Damit korrespondiert, dass es – gefühlt – seltener Eigeninitiative gibt.

Professor Dr. Michael Habs, Dr. Willmar Schwabe
Wende und Willkommenskultur

Den Mauerfall habe ich erst am 10. November mitbekommen durch die Berichterstattung in Zeitung und TV.

Mein erster Ostkontakt war die Abiturreise nach Westberlin mit dem obligatorischen Ausflug in den Ostteil der Stadt, später in den 70iger Jahren habe ich wiederholt Standdienst für eine amerikanische Pharmafirma auf der Leipziger Messe gemacht und Onkologika erklärt.

Die Unterkunft in verschiedenen Leipziger Familien war ein Geflecht wechselhafter Erfahrungen, eingebettet in Klischees, Neugierde, Neid, Hoffnung und erlebter Zwischenmenschlichkeit. Das Ost/West- und West/Ost-Verständnis nach 25 Jahren Einheit empfinde ich als gute Voraussetzung, um ein Einwanderungsland zu werden, das seine Willkommenskultur nicht nur in Sonntagsreden demonstriert.

Dr. Thomas Strüngmann, damals Hexal
Wieder entdeckte Werte

Durch die damalige größte Pharma-Investition der Hexal in den neuen Bundesländern, Akquisition der Fahlberg-List, und Bau des modernen Werkes in Magdeburg haben wir sehr viel vor allem positive Erfahrungen gemacht.

Auch wenn es nur verallgemeinernd gesagt werden kann: Am hervorstechendsten waren der große Familie-/Freundes-Zusammenhalt, das große Engagement und auch ein Wertesystem, das im Westen teilweise verloren gegangen war – mit all seinen Vor- und Nachteilen.

Edwin Kohl, Kohl Medical
Geschichtsereignis am Geburtstag

Der 9. November ist für mich persönlich schon immer ein besonderer Tag, da es mein Geburtstag ist. In meinem Geburtsjahr 1949 wurde mit der Gründung der BRD und der DDR die deutsche Teilung faktisch vollzogen. Der 9. November im Jahr 1989 wurde im Laufe des Abends jedoch mein schönster Geburtstag.

Nach den ersten Meldungen in den Medien sahen wir später im Fernsehen mit großer Freude die Menschen aus Ost und West, die auf die Mauer gestiegen waren und sich in den Armen lagen und die in ihren Trabis mit unglaublicher Euphorie, aber noch ungläubigem Staunen den Schlagbaum passieren durften. Die spätere wirtschaftliche Ost-Euphorie, also den Ausverkauf der Betriebe, habe ich nicht mitgemacht. Dennoch gab es kurze Zeit nach dem Mauerfall die ersten beruflichen Kontakte, da auch Apotheken aus dem Osten unsere Kunden wurden. „Westpräparate“ zu einem günstigeren Preis waren gefragt.

Ich freue mich immer wieder, wenn ich zum Beispiel in Berlin bin, was dort und in anderen Orten in den 25 Jahren Wiederaufbau für die fast vollendete Angleichung der Verhältnisse alles erreicht wurde. Umso erstaunlicher finde ich den immer noch stärkeren Zuspruch im Osten zu den demokratiefeindlichen rechten und linken Rändern.

Man kann daher nicht oft genug die Bedeutung des 9. November 1989 für unser Land und letztlich auch für Europa betonen. Er war der Anfang vom Ende der Teilung unseres Landes und des Kontinents. Damit ist der „Schicksalstag der Deutschen“ endlich mit einem positiven historischen Ereignis verbunden und für viele in Ost und West der eigentliche Tag der Deutschen Einheit.

Dr. Helmut Wittig, erster Vorsitzender des Thüringer Apothekerverbands
Studienreise nach München

Den Abend des 9. November selbst erlebten wir mit Tränen in den Augen vor dem Fernseher in allen West- und Ostkanälen nach den neuesten Nachrichten suchend und begannen das scheinbar Unbegreifliche langsam zu realisieren. Am nächsten Tag erlebten wir völlig verstopfte Straßen in Richtung bayerischer Grenze, die nicht einmal 20 km von uns entfernt war. Selbst verzichteten wir auf eine erste Reise und waren uns einig, das erst zu versuchen, wenn sich das Ganze etwas entspannt hatte. Das Radio lief fast rund um die Uhr und wir saugten alle Informationen gierig auf, um von der weiteren Entwicklung nichts zu verpassen.

Den ersten beruflichen Kontakt zu Kollegen aus den alten Bundesländern hatte ich auf Grund einer Einladung der bayerischen Landesapothekerkammer und des bayerischen Apothekerverbandes nach München, zusammen mit meinem Kollegen Dittmann aus Saalfeld und dem Kollegen Dr. Köhne aus Erfurt, in der Zeit vom 22. bis 24. Januar 1990. Es waren auch einige Kolleginnen und Kollegen aus Sachsen eingeladen und anwesend. Wir führten sehr intensive Gespräche, trugen unsere vielen Probleme vor und hatten die Möglichkeit, die VSA und den Vorläufer des genossenschaftlichen Handels der Sanacorp zu besichtigen. Die VSA war für uns von besonderem Interesse, da es auch um die künftige Abrechnung von Rezepten aus unseren Apotheken ging, weil es sich bereits abzeichnete, dass dies bei uns immer schwieriger wurde und die Existenz der Apotheken besonders gefährdete.

Für den 10. Februar 1990 hatte ich eine Einladung des bayerischen Staatsministers Glück und des Landrats von Kronach, Dr. Schnappauf, zu einem Treffen von Gesundheitspolitikern, Ärzten, Apothekern und kirchlichen Vertretern aus Franken mit Vertretern der gleichen Bereiche aus Thüringen und dem Vogtland. Für die künftige Entwicklung war dort der Kontakt mit dem Kollegen Dr. Walter Hubmann, zu dieser Zeit stellvertretender Vorsitzender des bayerischen Apothekerverbandes, von ganz besonderer Bedeutung.

Er sagte zu mir „Herr Kollege, es werden viele Absichten geäußert, aber am besten wir nehmen das Ganze selbst in die Hand“. Ich war natürlich einverstanden. Wir verabredeten, uns kurzfristig unter Apothekern zu treffen. Wir telefonierten am nächsten Tag, und er bereitete ein Treffen für den 17. Februar in Kulmbach vor. „Also, ich organisiere den Kontakt mit der bayerischen Kammer und dem Verband, und sie stellen bitte eine Gruppe zusammen, mit der man reden kann.“

Das Treffen kam zustande und von bayrischer Seite waren der Präsident der bayerischen Apothekerkammer, Dr. Vogel, dessen Geschäftsführer Dr. Platzer und der Geschäftsführer des bayerischen Apothekerverbandes, Dr. Weber, gekommen und die „Gruppe“ aus Thüringen, die ich zusammengestellt hatte, aus Kolleginnen und Kollegen, die mir bekannt waren und aktiv erschienen und auch teilweise bereits angefangen hatten, berufspolitisch tätig zu.

In der großen Hoffnung, dass sich doch in Zukunft in der DDR eine ganze Reihe Veränderungen ergeben könnten, lagen von den Thüringern eine ganze Reihe von Vorstellungen handschriftlich vor. Es gab sehr intensive Gespräche und umfangreiche Diskussionen. Unsere Vorstellungen wurden zum Teil bestärkt, Bedenken wurden ausgeräumt, Mut gemacht, aber auch viele Ansichten mussten wir verändern. Schließlich gab es ein Strategiepapier, das später als „ Kulmbacher Papier“ bezeichnet wurde.

Im Bereich des Apothekenwesens sehe ich inzwischen keine Unterschiede mehr zwischen den Ost- und Westregionen. Auch die anfänglich größeren Einwohnerzahlen im Osten pro Apotheke haben sich angeglichen. Anfänglich waren diese aber für den Fortbestand der unabhängigen niedergelassenen Apotheke im Osten sehr wichtig. Ich denke, wir haben jetzt alle mehr oder weniger die gleichen Probleme und auch die gemeinsamen Erfolge.

In unserer Kleinstadt und im Umfeld floriert die Wirtschaft jedoch noch immer nicht so, wie man sich das gewünscht hätte. In der Generation der Menschen, die zum Neuanfang nach 1990 aus ihren Arbeitsprozessen herausgefallen sind und keinen entsprechenden Neustart fanden, mit zum Teil sehr niedrigeren Renten, erfährt man doch in Gesprächen bei überwiegender Freude über die Entwicklung eine gewisse Traurigkeit und Enttäuschung.

Henning Fahrenkamp, Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI)
„Zeitenwende zum Greifen nah“

Als die Mauer fiel, lebte ich noch in Bad Harzburg und somit unweit der Grenze. Schon seit dem Frühjahr war man gebannt von den täglichen Nachrichten im Fernsehen. Die Proteste in Leipzig und anderen Städten waren in der Familie allein schon durch das gemeinsame Nachrichtensehen am Abend ständiger Gesprächsstoff. Und die Bilder aus Prag waren mit Sicherheit bis zum 9. November der emotionale Höhepunkt.

Bei uns daheim gab es die Planung, noch einmal zum Grenzübergang zu fahren. Stapelburg war ja nur einen Katzensprung entfernt. Und meine Töchter, damals sechs und vier Jahre alt, wollten die innerdeutsche Grenze, um die es eben jeden Abend ging, noch einmal in natura sehen. Noch einmal sage ich heute, damals war auch für uns ein Fall dieser Grenze gar keine klare Option. Dabei war in unserer Kreisstadt Goslar die Zeitenwende und die historische Stunde eigentlich zum Greifen. Denn viele der Botschaftsflüchtlinge aus Prag waren in der Goslarer Abteilung des Bundesgrenzschutzes untergebracht.

Dass uns die Dimension des Ganzen aber trotzdem nicht bewusst war, vielleicht auch gar nicht sein konnte, wird umso deutlicher, dass ich mich am Abend der Grenzöffnung nicht an irgendeiner historischen Stätte, sondern vielmehr in meinem Tanzkurs befand.

Den Besuch des Grenzübergangs haben wir dann unmittelbar danach unternommen. Doch das Bild war nunmehr ein völlig anderes. Menschen strömten fröhlich, enthusiastisch und ungläubig über die Grenze. Und auf Bad Harzburger Seite wurden sie begeistert empfangen. Das sind die Bilder, die ich wohl nie vergessen werde. Und dieses Gefühl berührt mich heute noch, wenn ich in Berlin beispielsweise durch das Brandenburger Tor gehe.

Dr. Thomas Trümper, Alliance Healthcare, Bundesverband des pharmazeutischen Großhandels (Phagro)
Sättigungsbeilagen und Software-Theoretiker

Zu der Zeit war ich noch Geschäftsführer der Maschinenfabrik Kaltenbach in Lörrach. Am 9. November 1989 saß ich den ganzen Abend vor dem Fernseher. Es waren sehr emotionale Momente, da meine Mutter aus Beeskow stammt und nach dem Krieg nie mehr dort war.

Mein erster Kontakt war zu einer Softwarefirma, die Steuerungsprogramme als Dienstleister entwickelte. Ungewöhnlich, aber es gab in der damaligen DDR hervorragend ausgebildete Theoretiker.

Was mir zuerst auffiel, war die Sprache. Die beiden „Deutschlands“ hatten sich nach meinem Empfinden sprachlich unterschiedlich entwickelt. Es existierten Ausdrücke, die ich noch nie gehört hatte, wie beispielsweise „Sättigungsbeilage“. Weiterhin überraschte mich die Vielzahl von Frauen in beruflichen Positionen, die damals im Westen nur von Männern besetzt waren. Beides scheint mir heute überwunden zu sein.

Als Anekdote kann ich berichten, dass es mich schon viel Überwindung kostete, bei meinem ersten Besuch mit dem Auto den Grünstreifen auf der Autobahn zu überqueren, um an eine Tankstelle zu gelangen.

Professor Dr. Rainer Braun, ehemals ABDA-Hautpgeschäftsführer
„Ich glaubte an eine filmische Fiktion“

Was ist Ihre eindrücklichste Erinnerung an den 9. November 1989?
Am 9. November 1989 war ich anlässlich einer internationalen Pharmaausstellung, bei der die WuV Mitveranstalter war, in Lyon/Frankreich. Ich bin gegen Mitternacht ins Hotel gekommen und wollte mir noch schnell die letzten Tagesnachrichten im Fernsehen anschauen. Im ZDF sah ich dann die Berichterstattung von der Maueröffnung und die Leute auf der Mauer sitzen. Ich verstand zunächst gar nicht, dass es sich um Realität handelte und glaubte an eine filmische Fiktion. Ein Anruf zuhause bestätigte dann allerdings die Realität.

Da ich erst zwei Jahre vor dem Mauerfall von Berlin nach Frankfurt umgezogen war, wusste ich die Bedeutung dieses Vorgangs sehr genau einzuschätzen.

Wie war der erste berufliche Kontakt zum Osten?
Es gab für mich zwei beeindruckende Kontakte, an die ich mich noch sehr gut erinnere. Der erste Kontakt war bereits wenige Wochen nach der Öffnung im Gesundheitsministerium der noch existenten DDR am Alexanderplatz in Berlin. Kernpunkt der Diskussion waren möglich, zukünftige Strukturen des Apothekenwesens. Dem Ministerium schwebte das damalige schwedische System vor, aber auch über private GmbH-Strukturen wurde nachgedacht. Wir haben mit großem Nachdruck die Vorteile des Systems der Inhaber-geführten Apotheke verdeutlicht.

Der zweite Kontakt fand im Rahmen einer Sitzung von führenden ABDA-Repräsentanten und Vertretern der sich gerade bildenden Berufsorganisationen in den neuen Bundesländern im Berliner Apothekerhaus statt. Hier wurden ausführlich die Vorstellungen der Kollegen der neuen und die Erfahrungen der Kollegen der alten Bundesländer diskutiert.

Welche Unterschiede zwischen Ost und West, die erfolgreich überwunden wurden oder noch existieren, finden Sie besonders bemerkenswert?
Dem Berufsstand ist es gelungen, das Apothekenwesen der DDR in sehr kurzer Zeit in das System der alten Bundesrepublik zu integrieren, ohne dass wesentliche soziale Härten zu verzeichnen gewesen wären, wie es in anderen Branchen der Fall war. Bei der Privatisierung kamen die ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen primär zum Zug und Personalentlassungen gab es fast nicht.

Sicher gibt es heute noch Kollegen in den neuen Bundesländern, die es bedauern, dass heute vielleicht die pharmazeutischen Ansprüche im Vergleich zu Zeiten der DDR geringer und dafür die betriebswirtschaftlichen umfangreicher sind, jedoch ist der Gewinn an persönlicher Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Apothekenführung von unschätzbarem Wert.

Ich denke, es gibt heute in den Apotheken der neuen und alten Bundesländer keine Unterschiede von besonderer Bedeutung mehr. Alle Apotheker können sich nun gemeinsam den Aufgaben und Zielen, die sie sich auf dem letzten Apothekertag gestellt haben, widmen.

Professor Dr. Michael Popp, Bionorica
Glücksfall für die Phytobranche

An die bewegenden Ereignisse 1989 erinnere ich mich ganz genau. In diesem Jahr hatte ich gerade die Geschäftsführung unseres Familienunternehmens von meinem Vater und meiner Tante übernommen. Als die Grenze zwischen den beiden deutschen Ländern fiel, war mir klar, dass wir schnellstmöglich die im Westen erfolgreiche Strategie eines flächendeckenden Außendiensts auch in den neuen Ländern umsetzen sollten.

Die Wende war ein wahrer Glücksfall für uns, denn wir stießen auf großes Interesse an unseren pflanzlichen Arzneimitteln nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch später in vielen sich öffnenden osteuropäischen Ländern. Die Verwendung der Heilkräfte aus der Natur hat dort eine lange Tradition und als langjähriger Anbieter von Präparaten mit wissenschaftlich erwiesener Qualität und Wirksamkeit trafen wir dort auf beste Voraussetzungen für unser internationales Wachstum in den folgenden Jahren.

Ich schätze die Menschen im Osten sehr für ihre Herzlichkeit und Aufrichtigkeit. Mittlerweile sind die Teams und Regionen zusammengewachsen und man kann keine Unterschiede in der Zusammenarbeit mehr wahrnehmen. Ob bei Mitarbeitern, Geschäftspartnern oder Ärzten und Apothekern – wir haben nicht nur Mitstreiter, sondern auch viele neue Freunde gewonnen.

Ulrich Ströh, MVDA
„Wir haben bis in den Morgen diskutiert“

Der erste berufliche Kontakt zum „Osten“ war der Besuch einer Gruppe Mecklenburger Apotheker bei der regionalen Kooperation FRISCHER WIND IN DER APOTHEKE in Kiel Ende 1989. Wir waren alle jung und haben an diesem Wochenende bis früh in den Morgen heiß diskutiert.

Unfassbar für uns Wessis, dass man zu diesem Zeitpunkt nicht direkt nach Rügen telefonieren konnte.

Die Vorstellung unserer Apothekenstrukturen incl. ABDA traf auf großes Interesse.

Spannend war auch der erste PHIP aus Greifswald circa 1992 zur Ausbildung in meiner Apotheke, viel diskutiert, nur beste Erfahrungen gemacht.

Unterschiede existieren für mich nicht mehr, eine Regionalsprecherin des MVDA aus Leipzig denkt nicht anders als eine Regionalsprecherin aus München...

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