Wo Tula liegt, müssen die meisten von uns auf der Landkarte suchen. Jeanette Waldner aus Zürich war vor Kurzem da: In der Stadt vor den Toren Moskaus hatten ihre Vorfahren einst eine stolze Apotheke. Der prominenteste Kunde in der „Alten Tulaer Apotheke“ war der Schriftsteller Leo Tolstoi (1828-1910). Heute ist das Haus ein Museum.
In seinem Tagebuch erinnert sich Waldners Großvater Woldemar Adermann so an den berühmten Kunden: „In etwa drei Kilometer Entfernung von unserem Landhaus lag Jassnaja Poljana, das Gut des weltberühmten Verfassers von ‚Krieg und Frieden‘ und ‚Anna Karenina‘, Graf Leo Tolstoi (…). Da Tolstoi jeden Sommer mehrmals vorbeikam und vorbeiritt und auch wir öfters nach Jassnaja Poljana spazieren gingen, habe ich den alten Grafen oft gesehen. Mit seinem wallenden weißen Bart, breitem Strohhut und weißem Leinenhemd sah er wie ein alter Bauer aus (…). Gelegentlich hat er sich auch mit uns unterhalten.“
Jeanette Waldner, die als Redakteurin bei der Tageszeitung „Südkurier“ in Konstanz arbeitet und in Zürich lebt, wuchs mit den geheimnisvollen Geschichten längst verstorbener Familienmitglieder auf. Wenn das Wort Tula fiel, wusste sie, dass ihre Mutter oder Großmutter gleich etwas aus dem fernen Land erzählen würden. Es waren Geschichten aus einem Ort, der für die kleine Jeanette ungefähr so weit weg war wie der Mond. Und der näher rückte, je älter sie wurde.
Nun, als Erwachsene, sollte sie ihn plötzlich sehen. Und aus vielen kleinen Bildern einer russischen Apotheke wurde plötzlich das Original: Ein stolzes altes Haus, in dessen ersten Stock sich die Wohnung ihrer Ururgroßeltern Jeanette und Ferdinand von Bielawski (1834-1903) befand.
Die Stadt hat die bekannteste Apotheke der Region zu einem Pharmazie-Museum ausgebaut. „Bis vor einigen Jahren war die Apotheke in Betrieb“, erzählt Waldner, „die Direktorin des Museums, Lilia Kaschentzewa, hat meinen Mann, meine Tante und mich eingeladen, das Haus zu besichtigen. Wir wurden großzügig mit einer russischen Teestunde verwöhnt.“ Es gab Tee und neue Geschichtchen und Geschichten, denen die Besucherin aufmerksam lauschte Denn aus dem kleinen, neugierigen Mädchen ist eine erwachsene, neugierige Journalistin geworden.
Die Geschichte von Waldners Familie in Tula beginnt im Jahr 1864 und endet 1918, als die Apotheke verstaatlicht wurde und die Familie die Stadt verließ. Apothekengründer Ferdinand von Bielawski entstammt polnischem Adel, er studierte in St. Petersburg Pharmazie. Nach seinem Abschluss machte er sich selbstständig und kaufte in Tula die Apotheke und das Nebengebäude am Prospekt Lenina. „Er fühlte sich als Deutscher, kam zu Wohlstand und Ansehen, förderte die deutsche Kultur und das evangelische Kirchenwesen in Tula“, sagt Waldner.
Die Lebensgeschichten und kleinen und großen Erlebnisse all jener Menschen, die sie nur von alten Schwarz-Weiß-Fotografien kennt, erfordern bei Fremden, die sie zum ersten Mal hören, ein wenig Konzentration, sind ihr allerdings seit Kindheitstagen wohlvertraut: „Bielwaskis Tochter Olga heiratete im Jahr 1890 den Apotheker Friedrich Adermann. Sie hatten vier Kinder, von denen zwei früh starben. Übrig blieben Georg und Woldemar. Auch Georg starb früh, im Alter von nur 22 Jahren an der Spanischen Grippe. Woldemar hatte einen Sohn, er hieß Joachim-Woldemar, und zwei Töchter. Sie hießen Gabriele Maass und Donata Moser.“ Donata wiederum hatte zwei Töchter, eine davon ist Jeanette.
Woldemar hatte in Moskau Rechtswissenschaften studiert und war nach Berlin gegangen. Dort lernte der mittellose Student bei einem wohltätigen Mittagstisch, den der „Verein für das Deutschtum im Ausland“ anbot, bei der Familie Triesethau die Tochter des Hauses kennen. Man verliebte sich. Die beiden heirateten im Jahr 1925.
„Meine Mutter und meine Tante kannten zwar die Familiengeschichte, konnten aber zu sowjetischen Zeiten keinen direkten Kontakt aufnehmen“, erzählt die Redakteurin. Nach der politischen Wende wurde für die mittlerweile verstorbene Mutter ein Traum wahr: „Im Jahr 2002 besuchte sie mit der Volkshochschule Villingen-Schwenningen die Apotheke unserer Vorfahren.“ Das Museum war damals noch Zukunftsmusik. Auch Tante Gabriele Maass war nun in Tula in der kleinen Reisegruppe, zu der auch Waldners Ehemann Henry gehörte.
Die Gäste konnten der Museumsleiterin Familienfotos und Bücher als Gastgeschenk übergeben, der Apotheker der Zürcher Letzi-Apotheke steuerte ein paar schöne, alte Apotheken-Utensilien bei. Auch das Pharmazie-Historische Museum der Universität Basel zeigte sich großzügig und sandte ein paar Gegenstände nach Tula. Aus eigener Tasche spendete das Ehepaar Waldner 7000 Euro für die Fassaden-Sanierung des Museums.
„Seit 1993 besteht eine Städtepartnerschaft zwischen Tula und Villingen-Schwenningen in Baden-Württemberg“, sagt die Redakteurin, „es gibt einen Freundeskreis Tula, der die Stadt mit rund einer halben Million Einwohner seit 1991 mit Hilfstransporten unterstützt und einen Schüleraustausch organisierte.“ Die Direktorin des Apotheken-Museums möchte künftig gemeinsame Projekte auf den Gebieten der Literatur und Kunst durchführen.
Und Tolstoi? Der ist eine schöne Erinnerung, die dem Museum besonderes Flair verleiht. Denn da, in der Offizin, wo man heute ehrfurchtsvoll als Museumsbesucher steht, da hat er vermutlich auch vor langer Zeit gestanden. Hat an einer der beiden altmodischen Kassen bezahlt, die längst außer Betrieb sind. Vielleicht stand er da mit Kopfschmerzen, vielleicht mit einer Erkältung. Oder er kaufte Arzneimittel für eines seiner 13 Kinder, die er mit Ehefrau Sofia Tolstaja hatte. Als Vater musste Tolstoi ein grauenhaftes Schicksal durchleben, acht seiner geliebten Kinder starben, bevor sie das Erwachsenenalter erreichten.
Glücklicherweise war der weltberühmte Schriftsteller mit einer robusten Gesundheit ausgestattet, von Krankheiten ist nichts bekannt, nur gegen Ende seines Lebens litt er an einer Lungenentzündung. Zum Thema Gesundheit ist aus seinem Munde nur ein Zitat zu finden: „Statt dass der Kranke mit dem gewohnten Leben aufhört und sein ganzes Leben auf die Sorge um die Heilung konzentriert, wäre es viel vorteilhafter für ihn – nicht nur bei einer unheilbaren Krankheit, sondern auch bei heilbaren Krankheiten –, ohne sich um die Krankheit zu kümmern, sein gewöhnliches Leben zu führen.“ Wenn‘s doch nur so einfach wäre.
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