Staatsexamen, PJ, Apotheke: Für die meisten Pharmaziestudenten führt der Weg schnurgerade vom Hörsaal in die Offizin. Nicht zuletzt durch die hohe Arbeitsbelastung bekommen viele dabei einen Tunnelblick und beschäftigen sich zu wenig mit den großen Zukunftsfragen der Branche, findet Tamim Al-Marie. Der 23-Jährige ist nur noch ein Semester vom Staatsexamen entfernt – und setzt trotzdem ein Jahr aus, um sich abseits der ausgetrampelten Pfade zu orientieren.
Als Pharmaziestudent ist man eigentlich meist mehr als ausgelastet. Das Arbeitspensum ist hoch, es muss enorm viel auswendig gelernt werden. Für den Blick über den Tellerrand bleibt da oft nicht viel Zeit und Energie. „Das ist cool, aber ich hab’ dafür gerade keine Zeit“, habe er ständig von seinen Kommilitonen gehört, erzählt Al-Marie. So fasste er irgendwann die Entscheidung, kurz vor Studienabschluss doch noch einmal ein Jahr auszusetzen. Denn er will sich noch vor Arbeitsbeginn in der Branche umsehen und sich ein Bild machen, was die virulenten Zukunftsfragen sind.
Den Impuls dafür erhielt er jedoch schon früh im Studium. „Im ersten Semester in Halle an der Saale habe ich mich im Analytik-Praktikum gut mit meinem Professor verstanden und so kam es, dass er mich mit zur Welt-Alzheimer-Konferenz nach Nizza genommen hat”, erinnert er sich. „Dort habe ich so viele geniale Leute gesehen, die an so vielen genialen neuen Ansätzen gearbeitet haben. Denen muss man doch helfen, das alles irgendwie auf den Markt zu bringen, dachte ich mir – und zwar so schnell wie möglich.“ Damit war sein Tatendrang geweckt.
„Eigentlich ist Digitalisierung ein ziemlich doofes Buzzword. Aber es ist nun einmal der Begriff für das, was gerade überall passiert. Und da ist es gar keine Frage, ob das auch uns betreffen wird.” An der Uni jedoch hatte er allzu oft das Gefühl, damit auf taube Ohren zu stoßen – und zwar bei den Kommilitonen, nicht den Professoren. „Wenn ich andere Studenten auf das Thema angesprochen habe, hieß es oft: ‚Lass das mal lieber, das kommt sowieso nicht in der Vorlesung dran.’“
Dabei müsse man doch als junger, angehender Apotheker viel offener für dieses Zukunftsthema sein, findet er. Also nahm er sein Glück selbst in die Hand und veranstaltete einen Workshop zum Thema Digitalisierung beim Pharmaweekend des Bundesverbands der Pharmaziestudierenden in Deutschland (BPhD). Nicht nur bekräftigte ihn das dort gezeigte Interesse, dass er wohl doch auf dem richtigen Weg ist, sondern er knüpfte bei der Vorbereitung darauf auch erste wichtige Kontakte.
So traf er einen anderen Studenten, der bereits an mehreren Start-Ups beteiligt war. Der nahm ihn in den Leipziger Inkubator „2b Ahead Venture“ mit, um dort Bekanntschaften in die Start-up-Szene zu knüpfen und Inspirationen zu sammeln. „Wenn man mit so etwas Neuem in Kontakt kommt, ist die Lernkurve ja ziemlich steil“, resümiert Al-Marie die Erfahrung. So kam es, dass er nach einer Zwischenstation als Praktikant bei Bayer den Entschluss fasste, ein Jahr auszusetzen, um sich auf neue, innovative Ansätze in der Branche zu konzentrieren – und wieder in Leipzig gelandet ist, um im Start-Up-Inkubator bei einem Beratungsprojekt zu arbeiten und Zukunftsperspektiven auszuspähen. Nicht zuletzt aktive Weiterbildung und das Netzwerken auf Konferenzen wie VISION.A haben sein Blick dabei geschärft.
„Ich glaube, so etwas braucht es in der Apothekenbranche“, begründet der gebürtige Hallenser seine Entscheidung: „Menschen, die sich auf die Digitalisierung spezialisieren.“ Das nur im Rahmen des Pharmaziestudiums zu tun, sei jedoch kaum möglich. In der modernen Arbeitswelt werden die Berufsfelder immer spezifischer, auch für Pharmazeuten. Gleichzeitig soll ein- und dasselbe Studium für eine große Reihe unterschiedlicher Berufswelten ausbilden: neben der Apotheke auch Industrie, Wissenschaft, Behörden und dergleichen – und alle mit wachsenden Anforderungen an die fachliche Qualifizierung der Absolventen.
„Ich bin schon froh, dass wir in der Pharmazie statt Bachelor und Master noch Staatsexamen haben“, sagt Al-Marie. „Aber wir müssen trotzdem darüber nachdenken, wie sich die zunehmende Differenzierung und Spezialisierung auch in der Struktur des Studiums widerspiegeln kann.” Ein Wandel hin zu mehr Methodik statt massenhaft auswendig gelernten Fachwissens wäre seiner Meinung nach schon einmal ein Anfang.
Außerdem täte es vielen Studenten gut, sie zu etwas mehr Input von außen zu bewegen. „Es gibt ja glücklicherweise Pflichtpraktika im Pharmaziestudium – wie aber wäre es denn beispielsweise mit Pflichtkonferenzen?“ Ein grundlegendes Problem bleibe jedoch bei all diesen Erwägungen: „Mir fielen viele Dinge ein, die man ins Pharmaziestudium aufnehmen sollte, aber kaum welche, die man streichen könnte.“
In jedem Fall gelte es aber, die angehenden Apotheker mehr in Fähigkeiten zu schulen, die in Zukunft unverzichtbar sein werden. „Das Pharmaziestudium vernachlässigt psychologische Aspekte einer professionellen Beratung“, bemängelt er. Denn in der liege die Zukunft des Apothekers. „Das wichtigste sind freie Entscheidung und gute Beratung“, ist er überzeugt. „Deshalb müssen wir lernen, Daten richtig zu nutzen, um anspruchsvoll beraten zu können. Wir sollten uns fragen, wie wir uns weiter darauf spezialisieren können und auch dafür vergütet werden – unter anderem sollten wir uns stärker mit Themen wie der Medikationsanalyse auseinandersetzen.“
„Je mehr ich mich damit beschäftige, desto bewusster wird mir, dass die Digitalisierung keine neuen Probleme schafft, sondern nur kleine, die bereits existieren, vergrößert“, insinuiert Al-Marie. Dass Patienten sich auf eigene Faust informieren und dabei Fehlschlüssen aufsitzen, gab es auch vorher schon. Durch den erleichterten Zugang zu allerlei richtigen und falschen Informationen ist das nur häufiger und sichtbarer geworden.
Anstatt sich auf diese negativen Auswirkungen zu konzentrieren, müsse man aber eine positive Grundeinstellung generieren, wenn man die Zukunft gestalten will. „Man muss mit den Best-Case-Szenarien motivieren, anstatt mit den Worst-Case-Szenarien Angst zu verbreiten. Denn beide werden digital sein!“ So könne durch digitale Tools beispielsweise in so vielen Bereichen Zeit gespart werden, dass man viel mehr dieser Zeit auf die individuelle Beratung verwenden kann. „Denn das ist die große Stärke von Ärzten und Apothekern.“
Wohin genau die Reise in der Branche geht, weiß auch er natürlich noch nicht. Er ist aber optimistisch, denn: „Ich traue den Apothekern großes Innovationspotenzial zu. Auch wenn wir kein Paradebeispiel für die Digitalisierung sind, zeigen die vielen Arzneimittel-Innovationen, wie fortschrittlich unsere Branche ist.“
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