„L'apotheque“

St. Pauli: Traditionsapotheke wird Sex-Museum

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Berlin -

Es ist mittlerweile eine traurige Regelmäßigkeit: Apotheken mit teils jahrhundertelanger Geschichte müssen schließen, weil sich keine Nachfolger finden. So erging es auch der Neuen Apotheke St. Pauli. Seit 1799 versorgte sie das weltberühmte Vergnügungsviertel mit Arzneimitteln. Doch nachdem Inhaberin Regis Genger 2018 unerwartet schwer erkrankte, verblieb niemand, der die historische Offizin hätte weiterführen können – zumindest nicht als Apotheke. Gengers Tochter führt ihr Erbe in anderer Form weiter.

Regis Genger war eine feste Institution auf dem Kiez. Seit Januar 1970 betrieb sie die Neue Apotheke St. Pauli und lebte den gesellschaftlichen Fortschritt, den Reeperbahn und Rotlichtviertel trotz aller Schattenseiten repräsentierten, selbst vor. In Zeiten, in denen Transsexualität tabu, Homosexualität verrucht und HIV-Positive stigmatisiert waren, setzte sie sich für diese marginalisierten Gruppen ein – und lebte das ihrer Tochter vor. „Meine Mutter war alleinerziehend, deshalb bin ich hier in der Apotheke aufgewachsen“, erzählt Anna Genger. Die Offizin war dabei nicht nur Spielplatz, sondern auch Schule des Lebens. „Einmal habe ich miterlebt, wie eine Transsexuelle meine Mutter weinend umarmt hat. Es war damals ausgeschlossen, dass eine Krankenkasse ihr die Hormontherapie bezahlt, also hat meine Mutter ihr das finanziert und ihr so die Geschlechtsanpassung ermöglicht.“ An die damals geltenden Regeln hat sie sich dabei nicht immer strikt gehalten – es war die Geschichte, die ihr Recht gab.

Diese Haltung hat sie immer versucht, ihrer eigenen Tochter mitzugeben. „Als viele Menschen damals Aidskranke aus Angst vor Ansteckung gemieden haben, hat meine Mutter mir schon erklärt, dass HIV nur über das Blut übertragen wird und ich ihnen doch wie allen anderen auch die Hand geben soll“, erinnert sich die 42-Jährige. „Meine Mutter hat Obdachlose genauso behandelt wie Rechtsanwälte mit Chauffeur und mit Punkern genauso geredet wie mit Vorstandschefs. Wenn jemand in die Apotheke kam, wollte sie, dass man den Menschen sieht, nicht den Schwulen, Transsexuellen, Aidskranken oder körperlich Behinderten.“

Und sie war Apothekerin aus Leidenschaft: Fast 50 Jahre stand sie in der Offizin, erst eine schwere Krankheit beendete ihr Berufsleben mit 83 Jahren. Im September 2018 schloss die Neue Apotheke St. Pauli. Nur 15 Monate später hätte Genger ihr 50-jähriges Jubiläum gefeiert. Doch es kam leider anders, Genger wurde zum Pflegefall. Ihre Tochter, die in London und Berlin lebte, zog zurück ins heimische St. Pauli, um sich um sie zu kümmern – und um die Apotheke zu übernehmen, wenn auch nicht ganz freiwillig.

Dass sie den Betrieb weiterführt, stand nicht zur Debatte. Anna Genger hat Kunst studiert, nicht Pharmazie. Lange war deshalb offen, was aus der Apotheke wird, die mit ihrem Mobiliar aus dem Jahre 1799 zwar ein Schmuckstück ist – aber ein unverkäufliches. „Ich hätte das Mobiliar für 65.000 Euro verkaufen können, doch das hat das Denkmalamt untersagt. So kam dann eine unfreiwillige Ehe zwischen mir und dem Vermieter zustande.“ Einen neuen Inhaber zu finden, der die Apotheke weiterführt, hält Genger für ausgeschlossen. Aus den Räumlichkeiten wieder eine Apotheke zu machen, würde Unsummen verschlingen, sagt sie. Zuletzt sei sie mit einigen Ausnahmegenehmigungen des Gesundheitsamts betrieben worden, die aber zusammen mit Gengers Betriebserlaubnis erloschen sind. Allein die Barrierefreiheit herzustellen, würde tausende Euro kosten. „Eine Apotheke wird das hier nie wieder werden“, sagt sie.

Vielleicht keine Apotheke, dafür aber „L’apotheque“: So heißt nämlich das Projekt, das Genger derzeit vorantreibt. Aus der ehemaligen Offizin soll ein privates Museum für Sexspielzeuge werden und noch viel mehr als das: ein Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst, Atelier und Büro, Veranstaltungsort für Lesungen, Seminare, Konzerte und Kunst in jeder Form. Genger betreibt gleichzeitig einen Online-Sexshop, der auf Menschen mit körperlichen Einschränkungen spezialisiert ist – ihr Beitrag zur Inklusion körperlich Behinderter. „Das Museum ist das Bindeglied zwischen Kunst und Sexualität“, sagt sie. Die Exponate sammelt sie derzeit, unter anderem hat sie demnächst einen Termin bei einer privaten Sammlerin im Erzgebirge, die seit Jahrzehnten Sexspielzeuge sammelt und der sie einen Teil der Kollektion abkaufen will. Die Ausstellung soll dann Exponate vom Beginn des 20. Jahrhunderts über DDR-Sexspielzeuge bis zu modernen Gerätschaften umfassen. Ein Auge hat sie dabei auch auf Exponate aus anderen Ländern und Kulturen von Thailand über Indien bis China geworfen.

Dabei gehe es ihr nicht darum, auf St.Pauli nur eine neue Touristenattraktion zu schaffen, sondern ebenso Aufklärungsarbeit zu leisten wie ihre Mutter. „Es geht nicht darum, weniger schmutzig oder pornographisch zu sein, sondern zu zeigen, dass Kunst, Kultur, Wissenschaft und Sexualität zusammengehen“, sagt sie. „Denn Sexualität und Intelligenz schließen sich nicht gegenseitig aus.“ L’apotheque solle ein „fruchtbarer Boden für progressives Denken“ werden, wünscht Genger sich. Bis dahin ist es noch ein Weg – auch wenn es keine echte Apotheke wird, herrscht Investitionsbedarf. Rund 20.000 Euro koste die Sanierung des Verkaufsraumes, von denen das Denkmalamt und die Stiftung Denkmalpflege jeweils 7000 Euro übernehmen. Den Restbetrag will Denger auch durch Crowdfunding zusammenkriegen. Kleinere Events sind schon jetzt geplant, offizielle Eröffnung soll dann Anfang 2021 sein – je nachdem, welchen Spielraum die Covid-19-Pandemie Kulturveranstaltungen bis dahin gibt. „Eine große Eröffnungsfeier möchte ich erst machen, wenn wir nicht mehr alle mit Masken rumstehen müssen“, sagt sie.

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