„Sonst bekomme ich keine Approbation“ Eugenie Ankowitsch, 20.09.2018 10:22 Uhr
Seit der Pubertät leidet Siba Naddaf an Muskeldystrophie. Inzwischen ist die 33-jährige Syrerin, die vor vier Jahren nach Deutschland auswanderte, an den Rollstuhl gefesselt. Ihren Beruf will die Pharmazeutin jedoch trotz ihres Handicap nicht aufgeben und will mit allen Mitteln um die deutsche Approbation kämpfen. Einfach ist es jedoch nicht. Schon die Suche nach einem Praktikumsplatz erweist sich als ein schier unüberwindbares Hindernis.
Als sie zwölf Jahre alt war, fiel ihren Eltern ihr komischer Gang auf, erinnert sich Naddaf. Nach etlichen Untersuchungen stand die Diagnose fest: Muskeldystrophie. Alle Muskeln in ihrem Körper seien betroffen. Noch bis 2012 konnte Naddaf, wenn auch mit Hilfe, laufen. Seitdem sitzt die heute 33-Jährige im Rollstuhl. Trotz ihrer ernsten Erkrankung hat sie Pharmazie in Homs studiert und nach ihrem Abschluss zwei Jahre in einer Apotheke gearbeitet. 2014 ist sie eigenen Angaben nach legal aus Syrien ausgewandert. Mit einem Flugzeug sei sie zunächst nach Italien und anschließend mit dem Zug nach Deutschland gekommen.
Hier angekommen wollte sie sie sich beruflich umorientieren und hat Linguistik und Kunstgeschichte studiert. Denn daran, dass sie als Apothekerin in einer deutschen Apotheke arbeiten könnte, hat Naddaf zunächst nicht geglaubt. Die meisten Apotheken seien klein und eng. „Deshalb suchte ich mir ein etwas theoretisches Fach aus“, erklärt sie. Im letzten Moment habe sie ihre Meinung jedoch geändert. „Schließlich habe ich bereits einen Beruf erlernt, mag ihn sehr und möchte ihn auch ausüben“, sagt sie. Sie begann, sich mit den Formalitäten zur Anerkennung ihres syrischen Pharmazeuten-Diploms auseinanderzusetzen.
Inzwischen hat die junge Frau, die mittlerweile ein wirklich ausgezeichnetes Deutsch spricht, ihre Fachsprachenprüfung erfolgreich abgelegt und bereitet sich auf die sogenannte Kenntnisprüfung, die dem dritten Staatsexamen entspricht. Gern würde die syrische Pharmazeutin ein Praktikum in einer Apotheke absolvieren, um die Abläufe kennenzulernen. „Ein solches Praktikum ist zwar keine Pflicht, um an der Kenntnisprüfung teilzunehmen“, weiß sie. „Man braucht aber unbedingt praktische Erfahrungen, um die Prüfung bestehen zu können. Sonst bekomme ich keine Approbation. Obwohl ich wirklich sehr viel lerne, reicht die Theorie nicht.“ Denn unter anderem werde man in pharmazeutischer Praxis geprüft, die man – wie der Name schon nahelegt – vor allem in der Praxis üben sollte.
Vom Regierungspräsidium Stuttgart habe sie im Herbst 2017 eine Berufserlaubnis erhalten. Damit könnte sie unter Aufsicht in einer deutschen Apotheke arbeiten und Kunden beraten. Knapp ein Jahr habe sie nach einem Praktikum gesucht. Doch keine Apotheke sei bereit, ihr einen vollwertigen Praktikumsplatz zu geben. „Die meisten meiner Kommilitonen, die ebenfalls aus dem Ausland kommen und gemeinsam mit mir an einem Online-Vorbereitungskurs teilnahmen, absolvieren inzwischen ihre Praktika und verdienen auch ihr eigenes Geld“, berichtet Naddaf. „Ich bekomme dagegen nur Absagen.“
Die Herausforderungen, die ihre Erkrankung für den Berufsalltag in einer Apotheke mit sich bringen, sind in der Tat zahlreich und vielfältig. Einerseits seien die HV-Tische zu hoch für eine Rollstuhlfahrerin. Naddaf versuchte, das Problem mit einem Elektrorollstuhl mit Hebefunktion zu lösen. Sie hat ihn beantragt und sogar bewilligt bekommen. Doch nun stand sie vor dem nächsten Dilemma. Die meisten Offizinen sind schlicht zu eng. Vor allem der Abstand zwischen dem HV-Tisch und der Sichtwahl sei häufig sehr knapp bemessen. „Ein Elektrorollstuhl ist aber noch eine Stück breiter als herkömmlicher“, erklärt sie. So sei es für sie unmöglich, sich frei hinter dem HV-Tisch zu bewegen.
Auch der HV-Tisch selbst müsste an ihre Bedürfnisse angepasst werden. Der Elektrorollstuhl habe zwar eine Hebefunktion. Das Problem sei aber, dass sie damit nicht unter den Tisch fahren kann, da die meisten HV-Tische mit Schubladen ausgestattet oder zu schmal seien. Bleibt Naddaf vor dem HV-Tisch stehen und betätigt die Hebefunktion, komme sie nicht an die Kasse heran. Da auch ihre Hände betroffen sind, sei sie bei manchen Aufgaben auf die Hilfe von Kollegen oder einer Assistenz angewiesen. So könne sie zwar schreiben und tippen. Wenn sie allerdings einen höher liegenden Gegenstand holen soll, benötige sie Unterstützung.
Da die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln aufgrund noch vielerorts fehlender Barrierefreiheit oder häufig kaputter Fahrstühle schwierig sei, musste sie sich im Bewerbungsprozess auf Apotheken beschränken, die sie mit ihrem Rollstuhl erreichen konnte. Neun Bewerbungen habe sie insgesamt abgeschickt oder persönlich in Apotheken vorbeigebracht. „Ich wurde zwar zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen“, berichtet sie. Nach einer Woche sei aber die Absage gekommen. „Ich habe das Gefühl, die Inhaber wollen sofort jemanden haben, der alles allein erledigen kann“, spekuliert Naddaf.
Seit einigen Wochen darf die Pharmazeutin in den Apothekenalltag reinschnuppern. Doch ein vollwertiger Praktikumsplatz sei das nicht. Sie dürfe nur wenige Stunden an drei Tagen in der Woche in die Apotheke kommen. Unbezahlt. „Sie erklären mir wirklich sehr viel. Ich höre zu und bin dabei. Beraten lässt man mich aber nicht, auch nicht unter Aufsicht“, bedauert sie. Dennoch hofft sie, die Inhaberin mit der Zeit von ihrer Kompetenz überzeugen zu können und schon bald Kunden zu beraten. Dass nur wenige Stunden am Tag drin sind, ist dem Umstand geschuldet, das Naddaf auf eine behindertengerechte Toilette angewiesen ist, über die die Apotheke allerdings nicht verfügt. „Das ist ein wirklich großes Problem“, berichtet sie. „Sogar an den sehr heißen Tagen in diesem Sommer habe ich mir das Trinken verkniffen, damit ich diese Zeit und den Weg nach Hause ohne Toilettengang überstehe.“
Die syrische Pharmazeutin macht sich große Sorgen, dass ihre Berufserlaubnis abläuft, bevor sie ausreichend Erfahrung sammeln konnte. „Ich habe viele Monate mit der Suche nach einem richtigen Praktikumsplatz verbracht“, sagt sie. Sie hätte nicht gedacht, dass es so schwierig sein würde. „Ich möchte doch nur in meinem Beruf arbeiten und für mich selbst sorgen können.“ Sogar auf die Bezahlung des Praktikums, wie sie eigentlich üblich sei, verzichte sie, um in „das System“ zu kommen. Doch sie fühle sich ziemlich verloren, wie sie zugibt. „Mir ist bewusst, dass die Chance, später in einer Apotheke zu arbeiten, verschwindend gering ist“, weiß sie. Allerdings gebe es für Pharmazeuten auch außerhalb der Apotheke viele Möglichkeiten, ihren Beruf auszuüben. Dazu müsse sie allerdings die Kenntnisprüfung bestehen.
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