Heimbewohner oft ohne Genehmigung sediert Franziska Gerhardt, 14.07.2014 11:28 Uhr
Am Amtsgericht München gibt es eine Initiative gegen den Missbrauch von Psychopharmaka in der Altenpflege. Ziel ist es, eine Sensibilisierung im Umgang mit diesen Medikamenten zu erreichen. Auch soll die interdisziplinäre Zusammenarbeit gefördert werden: Der Arbeitsgruppe gehören Vertreter des Bayerischen Justiz- und Gesundheitsministeriums, des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen Bayern und des Bayerischen Hausärzteverbandes sowie der örtlichen Betreuungsbehörden und der Fachstellen für Qualitätssicherung in der Altenpflege an.
Die Initiative plant für Anfang November einen Fachtag, bei dem Vertreter der Münchner Alten- und Pflegeeinrichtungen, Fach- und Hausärzte, Angehörigenvertreter und -beiräte, Betreuungsvereine und Vertreter der Psychiatrien in München über das Thema informiert werden.
Das Thema liegt dem Amtsgericht nahe, weil die Behörde für die Genehmigungen von freiheitsentziehenden Maßnahmen in Stadt und Landkreis zuständig ist. Gesetzlich muss immer dann, wenn ein Medikament mit sedierender Wirkung verabreicht werden soll, ohne dass der Hauptzweck die Heilung des Patienten ist, eine betreuungsrechtliche Genehmigung vorliegen. Damit stellt das Gesetz die medikamentöse Ruhigstellung der mechanischen Fixierung gleich.
Anträge für solche Genehmigungen müssen von den Betreuern gestellt werden. Dann prüft ein Richter die Notwendigkeit der Medikamentengabe. Bisher seien nur eine verschwindend geringe Zahl solcher Anträge eingegangen, heißt es vom Amtsgericht München. Die Bundesinteressenvertretung der Nutzer von Wohn- und Betreuungsangeboten im Alter (BIVA) befürchtet, dass Psychopharmaka in vielen Fällen ohne richterliche Genehmigung gegeben werden.
Der Einsatz solcher Mittel sei für Außenstehende unsichtbar und die Grenze zur therapeutischen Anwendung fließend, sagte BIVA-Vorstandsvorsitzender Dr. Manfred Stegger. Man wisse aus dem Pflegebericht des Medizinischen Dienstes, dass bei gut 11 Prozent der Bewohner, die in Senioreneinrichtungen durch Gurte oder Gitter fixiert würden, keine Einwilligung oder richterliche Genehmigung dafür vorliege. Deutlich höher dürfte die Zahl bei Ruhigstellungen durch Medikamente liegen, vermutet Stegger.
Die BIVA bezeichnete die Initiative des Amtsgerichts als beispielhaft. Stegger forderte eine Ausdehnung auf ganz Deutschland. „Pflegebedürftige und deren Angehörige haben überall ein Recht auf Schutz vor dieser Art von Missachtung ihrer Grundrechte auf Würde und körperliche Integrität“, sagte er.
Erfahrungen aus einem ähnlichen Projekt, dem „Werdenfelser Weg“, hätten gezeigt, dass durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit die Fixierungen von Münchner Pflegeheimbewohnern von 12 Prozent im Jahr 2011 auf unter 5 Prozent im Jahr 2013 reduziert werden konnten. In diesem Projekt hatten Richter darauf gedrungen, dass in den Verfahren zur Genehmigung der Gabe von Psychopharmaka eine „pflegeerfahrene Person“ als Schiedsperson dabei ist. Diese Verfahrenspfleger sind oft Rechtsanwälte und vertreten die Interessen des Betreuten. Im Werdenfelser Projekt wurden aber auch Pfleger zu Verfahrenspflegern ausgebildet, da sie über praktische Berufserfahrung verfügen.
Nach Angaben der BIVA bekommen mehr als 50 Prozent der Bewohner von Alten- und Pflegeheimen in München Psychopharmaka mit beruhigender und sedierender Wirkung. Vor allem zur Nachtruhe, wenn sich wenige Pflegekräfte um viele Bewohner kümmern müssten, würden Medikamente zur Ruhigstellung verabreicht.
„Die Situation in München dürfte sich in ähnlicher Form überall in Deutschland wiederholen“, sagte Stegger. Er geht bundesweit von rund 400.000 alte Menschen in deutschen Senioreneinrichtungen aus, die regelmäßig Psychopharmaka erhalten – viele von ihnen nicht aus therapeutischen Gründen, sondern einfach zur Ruhigstellung. Dass solche Fälle gerichtlich genehmigt werden müssten, sei vielen Beteiligten möglicherweise gar nicht bekannt, so Stegger.
Die BIVA fordert in der Altenpflege einen generellen Verzicht auf sogenannte Freiheitseinschränkende Maßnahmen (FeM), ob nun mechanisch oder medikamentös. Das entspreche dem aktuellen pflegewissenschaftlichen Stand, sagte Stegger. Kurzfristig müsse eine Reduzierung der FeM erreicht und dringend sichergestellt werden, dass zumindest der Rechtsweg eingehalten werde.