Zyto-Skandal

Pfusch-Apotheke: „Deutlich höhere Überlebensrate“

, , Uhr aktualisiert am 14.11.2017 13:09 Uhr
Essen -

Im Prozess um angeblich gestreckte Krebsmedikamente will sich der angeklagte Apotheker aus Bottrop selbst nicht zu den Vorwürfen äußern. Seine Verteidiger griffen am Dienstag die Staatsanwaltschaft scharf an und bezeichneten die Ermittlungsergebnisse als „unbrauchbar“.

Der Vorwurf, dass Medikamente systematisch unterdosiert seien, könne nicht stimmen. Studien zeigten, dass von dem Bottroper Apotheker belieferte Ärzte bei ihren Patienten „eine deutlich höhere mittlere Überlebensrate“ erzielt hätten, argumentierten die Verteidiger.

Konkret werfen sie den Ermittlern vor, die Einkaufsquoten des Angeklagten nicht genau genug ermittelt zu haben. So sei zum Beispiel der vorhande Anfangsbestand an Medikamenten nicht berücksichtigt worden. Auch die sichergestellten Proben, in denen laut Anklage wenig oder keine Wirkstoffe nachgewiesen wurden, hätten keine Aussagekraft, da die Analyseverfahren noch nicht ausgereift seien.

„Wir haben Verständnis für die Sorgen und Ängste der Patienten“, sagte Verteidiger Peter Strüwe (Dr. Daube, Strüwe & Kollegen, Essen) in dem Prozess vor dem Essener Landgericht. Man müsse sich jedoch von der reflexartigen Bewertung freimachen, dass alles, was bis jetzt bekannt sei, schon stimmen werde. S. wird außerdem vertreten von den Rechtsanwälten Eerke Pannenborg und Ulf Reuker (Park, Dortmund) und Christian Roßmüller (Roßmüller & Scaglione, Essen).

In einem etwa zwanzigminütigen Vortrag beklagten die Verteidiger auch die „mediale Vorverurteilung“ ihres Mandanten aus „purer Gier nach Tratsch auf niedrigstem Niveau“. Der Angeklagte werde nicht nur „ge- und verurteilt“, sondern auch „ge- und hingerichtet“, schreibt die Rheinische Post. Sein Schweigen, das in der Öffentlichkeit zu „großer Unsicherheit“ führe, sei nicht zuletzt darauf zurückzuführen. Dass der Angeklagte in seiner „emotionalen Ausnahmesituation“ auch weiterhin schweigen werde, sei „nicht in Stein gemeißelt“. Unmittelbar danach bestätigte S. dem Richter aber laut Bericht, dass er sich bis auf Weiteres nicht zur Sache äußern werde.

Das Recherchekollektiv Correctiv hatte bereits am Wochenende berichtet, dass die Verteidigung eine Angriffsstrategie fahren werde. „Sie bezweifeln die Buchhaltung der Alten Apotheke und die Wissenschaftlichkeit der Analysen der bei der Razzia sichergestellten Infusionen“, hieß es. Notfalls sollten kleinere Vergehen zugegeben werden, um S. vor dem Vorwurf zu schützen, tausenden Patienten lebensrettende Medikamente vorenthalten zu haben.

Nach Ansicht der Anwälte hat die Buchhaltung der Alten Apotheke nicht gestimmt, der tatsächliche Warenbestand an vorhandenen Krebsmitteln sei gar nicht verzeichnet gewesen. So seien Zytostatika aus den Jahren von 2001 bis 2012, die in der Apotheke noch gelagert hätten, nicht erfasst gewesen. Auch seien Restmengen aus angebrochenen Packungen genutzt worden, genauso wie abgelaufene und beschädigte Packungen, die nur auf dem Papier an die Hersteller zurückgeliefert worden seien. Die Dokumentation der Hersteller sei zudem fehlerhaft: Sie hätten mehr an die Alte Apotheke geliefert, als in ihren Büchern stünde.

Laut Staatsanwaltschaft, so Correctiv, ist das Unfug: Bei den angegebenen Summen seien die Mengen viel zu gering, die S. auf dem Schwarzmarkt eingekauft oder aus Überfüllungen genutzt haben will. Zudem sei die Vielfalt der gepanschten Mittel viel zu groß, als dass man sie mit diesen einzelnen, krummen Geschäften erklären könne.

Die Anwälte von S. behaupten laut Correctiv, die bei der Razzia beschlagnahmten Infusionen seien kein Beweis. Sie hätten die Apotheke nicht verlassen, S. hätte sie also noch nicht freigegeben. Er hätte sie noch korrekt zubereiten können. Außerdem sei gar nicht nicht möglich, das Konzentrat von Zytostatika in Infusionen nachträglich zu bestimmen, so die Anwälte. Sie legen demnach ein Gutachten vor, das belegen soll, dass die Untersuchungen des Landeszentrum Gesundheit NRW und des Paul-Ehrlich-Institut keine Beweiskraft hätten.

Weiterhin argumentiere die Verteidigung, es gebe keine Zeugen, die gesehen hätten, dass S. Medikamente gestreckt habe. Er habe bevorzugt in den frühen Morgenstunden alleine in seinem Labor gearbeitet, um Zeit zu sparen. Dass S. dabei gegen das gesetzlich vorgeschriebene Vier-Augen-Prinzip bei der Herstellung von Zytostatika verstoßen hat, nehmen die Verteidiger laut Correctiv hin.

Auch gestehen sie Ankäufe auf dem Schwarzmarkt ein: Mindestens einem Pharmavertreter habe S. demnach Zytostatika in einem Parkhaus „aus dem Kofferraum“ abgekauft – alleine 2014 soll er unter anderem für diese Geschäfte mehr als 200.000 Euro aus der Kasse der Apotheke genommen haben.

Erfolg für die Opfer: Das Gericht machte bei Prozessauftakt klar, dass alle Patienten, die nachweislich Medikamente aus der Bottroper Apotheke bekommen haben und auf der Liste stehen, die den Ermittlern vorliegt, als Nebenkläger infrage kommen. Ebenso Personen, die durch die Tat zu Schaden kamen oder einen Angehörigen verloren haben. Die Staatsanwaltschaft war in diesem Punkt restriktiv vorgegangen, da aus ihrer Sicht nur schwer nachzuweisen ist, welche Personen konkret mit gestreckten Infusionen behandelt wurden und dass daraus ein gesundheitlicher Schaden entstanden ist.

Ein tragischer Krankheitsverlauf oder das Ausbleiben von Nebenwirkung seien im Einzelfall kein ausreichender Beweis. Ein Gutachten des Tumorforschers Professor Dr. Martin Schuler von der Uni-Klinik Essen kommt zu dem Schluss, dass der Schaden „bei einer Minderdosierung nicht zu quantifizieren“ sei. Somit sei unklar, ob die Krebspatienten bei richtiger Dosierung länger gelebt hätten. Laut Ärzten und Gesundheitsamt Düsseldorf könnte eine Fall-Kontroll-Studie Aufklärung bringen: Hier würden die Krankheitsverläufe von Patienten, die aus Bottrop Medikamente bekamen, mit der Krankheitsgeschichte einer vergleichbaren Gruppe abgeglichen werden.

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