Sie irren herum, sie rufen, sie verhalten sich aggressiv: Demenzkranke machen Pflegern in Altenheimen viel Arbeit. Sehr viele bekommen deshalb Psychopharmaka – obwohl diese Mittel gesundheitliche Risiken bergen. Sollen sie nur ruhiggestellt werden?
Demenzkranke in Pflegeheimen bekommen in Deutschland häufig Psychopharmaka, die ihrer Gesundheit schaden können. Das geht aus dem am Mittwoch veröffentlichten Pflege-Report 2017 hervor. Fast die Hälfte der 500.000 stationär betreuten Demenzpatienten (43 Prozent) erhält demnach sogenannte Neuroleptika, also Mittel, die gegen Wahnvorstellungen eingesetzt werden. Fast alle dieser Medikamente sind eigentlich nicht für Demente zugelassen.
Patientenschützer rügten den Einsatz von Antidepressiva und Beruhigungsmitteln. Damit würden Demenzkranke in Pflegeheimen oft „ruhiggestellt“, weil Personal fehle, sagte der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, der Deutschen Presse-Agentur. „Für die meisten Heimbewohner ist das äußerst schädlich.“
Ähnlich bewertet es Pharmakologin Professor Dr. Petra Thürmann, die für den Report der Krankenkasse AOK rund 850 Heimbewohner untersucht hat. „Der Nutzen ist nicht besonders, aber dafür kaufen wir uns relativ viele Risiken ein“, sagte sie. Zwar gehe es 10 bis 20 Prozent der Patienten dank der Neuroleptika besser, aber es komme durch die Nebenwirkungen auch zu Todesfällen, Schlaganfällen und Verschlechterungen der Denkfähigkeit.
Hierzulande werden die Mittel besonders häufig verschrieben. In schwedischen Pflegeheimen bekämen nur 12 Prozent der dementen Bewohner Neuroleptika, in Frankreich 27 Prozent, sagte Thürmann. Diese niedrigeren Werte zeigten, dass man Demenzkranken auch anders als mit Medikamenten helfen könne, beispielsweise mit Beschäftigungsangeboten.
Das scheitert laut dem Report aber oft am Zeitdruck. Knapp ein Drittel von rund 2500 befragten Altenpflegern in Deutschland gab an, Zeitmangel sei Schuld daran, dass nicht auf Alternativen zu Medikamenten zurückgegriffen werde.
Demenzkranke stellen Pflegekräfte häufig vor große Herausforderungen. Rund drei Viertel der befragten Pfleger ist täglich bei der Arbeit mit verbal auffälligem und körperlich unruhigem Verhalten der Bewohner konfrontiert. Ein Drittel erfährt jeden Tag verbale Aggressionen, 15 Prozent haben es täglich mit körperlich aggressiven Patienten zu tun.
Obwohl die Pfleger richtig einschätzen, dass den Bewohnern ihrer Heime viele Psychopharmaka verordnet werden, halten laut Report die meisten von ihnen den Einsatz der Medikamente bei Demenz für angemessen. Antje Schwinger, Mitautorin des Reports, sagte: „Das Problembewusstsein der Pflegekräfte muss hier offensichtlich geschärft werden.“
Brysch sagte, Fixierungen lehnten die meisten Pflegekräfte heute zwar ab. Aber nun übernähmen vermehrt Psychopharmaka die Aufgabe, die Patienten ruhig zu halten. „Das ist Freiheitsberaubung.“
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