Professor Dr. Henning Saß erstellt das psychiatrische Gutachten über den Patientenmörder Niels Högel. Der Angeklagte redet nicht mit ihm. Genau wie Beate Zschäpe, die Saß im NSU-Prozess begutachtete. Eine schwierige Suche nach Mosaiksteinen für ein Gesamtbild.
Nur etwa 15 Meter liegen zwischen dem Angeklagten und dem psychiatrischen Gutachter. Beide sehen sich drei, vier Mal im Monat von Angesicht zu Angesicht. Stundenlang. Räumlich näher kommen sie sich nicht in dem Saal in der Oldenburger Weser-Ems-Halle, der zum Gerichtssaal umfunktioniert wurde. Und sprechen will der des 100-fachen Mordes angeklagte Ex-Pfleger Niels Högel auch nicht mit Henning Saß (74). Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie muss sein Gutachten auf Beobachtungen im Prozess, Explorationsgespräche seines Vorgängers mit Högel, viele Akten, Vor-Gutachten und Zeugenbefragungen stützen.
„Es wird nun seine Aufgabe sein, den Angeklagten Högel im Hinblick auf seine Schuldfähigkeit zu begutachten und sachverständig zu prognostizieren, ob der Angeklagte wegen eines Hangs zu erheblichen Straftaten weiterhin für die Allgemeinheit gefährlich ist, so dass die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 StPO in Betracht käme“, hieß in der Mitteilung zum Gutachterwechsel am 21. Januar. Am Donnerstag wurden die letzten Zeugen vernommen. Jetzt schlägt die Stunde der Sachverständigen. Am Freitag informierte Richter Sebastian Bührmann den Psychiater Saß im Rückblick umfassend über Erkenntnisse aus der seit 30. Oktober 2018 laufenden Verhandlung. Saß hatte dazu nur wenige Nachfragen, die Högel erstmals im Prozess direkt beantwortete.
Saß ist Nachfolger des bisherigen Gutachters Konstantin Karyofilis, der aufgrund einer schweren Erkrankung ausfällt. Karyofilis begutachtete Högel bereits für den Prozess im Jahr 2015 und hatte anders als Saß Gelegenheit, viele Stunden mit dem früheren Krankenpfleger zu sprechen. In seinem Gutachten kam Karyofilis damals zum Schluss, dass Högel voll schuldfähig war. Er bezeichnete Högel als zerrissenen Menschen, der sich nach außen als starker Retter darstellte, innerlich aber vereinsamt gewesen sei und unter Depressionen und Ängsten gelitten habe.
Auch zum aktuellen Prozess sprach Karyofils mit Högel und erstellte Vor-Gutachten, auf die Saß zurückgreifen kann. Doch dürfte dessen Arbeit schwieriger sein, denn er muss die Persönlichkeit des Angeklagten sozusagen auch von außen über Dritte fragend erarbeiten. „Wissen Sie etwas darüber, ob er Tabletten genommen hat?“, fragt er einen Zeugen, der lange mit Högel an den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst zusammenarbeitete und mit ihm auch befreundet war. „Gab es Stimmungsschwankungen? Wie lange dauerten die? Minuten, Stunden, Tage?“, fragt er weiter. „Wenn er Auto fuhr, war da irgendwas auffällig? Fuhr er draufgängerisch, vorsichtig, zurückhaltend ängstlich, riskant?“ Mit Fragen wie diesen tastet Saß sich vor, sammelt Mosaiksteine, um Verhaltensmuster des Angeklagten zu erkennen.
Saß spricht grundsätzlich nicht mit den Medien. Und er ist da gut beraten. Es gilt, auch nur den Anschein einer Befangenheit zu vermeiden. Das Medieninteresse in Oldenburg ist hoch. So war es auch im Münchner NSU-Prozess, in dem Saß das psychiatrische Gutachten über die Angeklagte Beate Zschäpe erstellte. Auch sie weigerte sich, mit ihm zu sprechen. Der Sachverständige erklärte Zschäpe in dem Prozess für voll schuldfähig und legte nahe, dass sie auch in Zukunft noch gefährlich sein könnte. Im Juli 2018 wurde Zschäpe unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld wegen zehnfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.
Diese Strafe wurde 2015 wegen des Todes von sechs Patienten auf der Delmenhorster Intensivstation auch über Högel verhängt. Je nach dem weiteren Prozessverlauf könnte Saß, der von 2001 bis 2010 hauptamtlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Aachen war, sein Vor-Gutachten etwa im April vorlegen. Für Högel dürfte sich im aktuellen Prozess mit Blick auf die Strafzumessung de facto nichts Wesentliches ändern, denn er hat bereits die Höchststrafe.
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