Pansch-Apotheker: Wie viel ist ein Leben wert? Patrick Hollstein, 03.04.2023 09:02 Uhr
Um seinen luxuriösen Lebensstil zu finanzieren, streckte der Bottroper Apotheker Peter S. in großem Stil Krebsmedikamente: Tausende Infusionslösungen waren unterdosiert oder enthielten womöglich überhaupt keinen Wirkstoff. Noch immer läuft die juristische Aufarbeitung, es geht um Schmerzensgeld für die Opfer und Hinterbliebenen. Dabei stellt sich auch die schwierige Frage, wie viel ein Menschenleben eigentlich wert ist.
Vor dem Amtsgericht Essen sind zahlreiche Klagen von mutmaßlichen Opfern oder deren Hinterbliebenen anhängig. Es geht um Schadenersatz und Schmerzensgeld und die Frage, ob solche Ansprüche im Rahmen des Insolvenzverfahrens des Pfusch-Apothekers geltend gemacht werden können. Vor einem Jahr wurde erstmals einer Angehörigen ein Betrag von 10.000 Euro zugesprochen, der zur Insolvenztabelle angemeldet werden konnte.
In einem aktuellen Fall ging es um 55.000 Euro, die der Ehemann einer 2016 verstorbenen Krebspatientin einfordern wollte. Ab 2013 war die Frau nachweislich mit verschiedenen Infusionslösungen aus der Apotheke behandelt worden, darunter waren fünf Zubereitungen mit dem Wirkstoff Myocet, 48 Zubereitungen mit dem Wirkstoff Folinsäure, zwei Zubereitungen mit dem Wirkstoff Vinorelbin und zehn Zubereitungen mit dem Wirkstoff Eribulin.
Im Zweifel für den Angeklagten
Im Rahmen des Strafprozesses waren für jeden Wirkstoff die Einkaufs- und Abrechnungsmengen abgeglichen worden. In Fällen, wo abzüglich eines Sicherheitsabschlags von 10 Prozent noch genügend Substanz eingekauft worden war, um die abgerechneten Infusionen mit mindestens 80-prozentigem Durchschnittsgehalt herzustellen, wurde zugunsten des Apothekers von einer ordnungsgemäßen Herstellung ausgegangen. So wurde Peter S. bei Myocet, Folinsäure und Vinorelbin freigesprochen, da die beschafften Mengen theoretisch hätten ausreichen können, um halbwegs wirksame Rezepturen im abgerechneten Umfang anfertigen zu können.
Der Witwer wollte das nicht gelten lassen; seiner Meinung nach ist vielmehr davon auszugehen, dass gar keine Infusionen ordnungsgemäß hergestellt wurden. Durch die zu niedrigen Dosierungen hätten die Medikamente bei seiner Frau nicht die beabsichtigte Wirkung entfalten können; dies habe zu einer schnelleren Verschlechterung ihres Gesundheitszustands und einem früheren Todeszeitpunkt geführt.
Im Namen seiner Frau fordert er ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 25.000 Euro, für sich selbst ein Schmerzensgeld in Höhe von 30.000 Euro aufgrund erheblicher psychischer Beeinträchtigungen: Er sei bis heute permanent mit dem Gedanken konfrontiert, dass seine Ehefrau womöglich noch leben würde oder der Todeszeitpunkt nicht unerheblich hätte hinausgezögert werden können, hätte sie richtig dosierte Medikamente erhalten. Er sei durch diese psychisch höchst belastende Situation in seinem Alltag und seiner Lebensqualität eingeschränkt.
Insolvenzverwalter lehnt ab
Der Insolvenzverwalter lehnte die Forderungen ab: Auch bei Gabe von entsprechend der ärztlichen Verordnung hergestellten und verabreichten Zubereitungen wäre der Tod der Frau eingetreten; aufgrund individuell unterschiedlicher Wirksamkeiten der verabreichten Medikamente lasse der Krankheitsverlauf keinen Rückschluss auf ein etwaiges Fehlverhalten des Apothekers zu.
Auch das Amtsgericht Essen wies die Forderungen bei den drei Wirkstoffen, bei denen Peter S. freigesprochen worden war, „mangels substantiierter Darlegung der behaupteten Unterdosierungen“ ohne weitere Beweisaufnahme ab. Im Fall der zehn unterdosierten Zubereitungen mit dem Wirkstoff Eribulin sei der Patientin dagegen ein Schaden entstanden. „Die Verabreichung mittels Infusion ist mit einem körperlichen Eingriff verbunden und hat Schmerzen verursacht, zudem wurden Stoffe in unbekannter Dosierung und mit ungewisser Wirkung dem Körper zugeführt.“
Dass die unterdosierten Medikamente eine Heilung oder wenigstens lebensverlängernde Wirkung verhindert und stattdessen zu einem schnelleren Fortschreiten und früherem Tod geführt haben, steht laut Gericht hingegen nicht fest. Denn schon vor Beginn der Behandlung habe laut Gutachter aus medizinischer Sicht keine Heilungschance mehr bestanden; die Therapie sei rein palliativ erfolgt.
Ob die Behandlung einen positiven Effekt auf den Krankheitsverlauf gehabt habe oder nicht, sei nicht sicher beurteilbar: Einerseits habe keine Verkleinerung der Metastasen beobachtet werden können, andererseits habe die Patientin ab dem Zeitpunkt des Therapiebeginns noch 20 Monate gelebt. Damit habe die Überlebenszeit deutlich über dem Median von 13,1 Monaten in der Zulassungsstudie gelegen, sodass ein positiver Einfluss auf die Lebenszeit nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden könne.
Nur geringe Erfolgsaussichten
Und vor dem Hintergrund der medianen Ansprechdauer von vier Monaten sei außerdem die statstische Wahrscheinlichkeit gering, dass die Patientin auch bei optimaler Dosierung einen klinischen Benefit gehabt hätte. Da in der Studie obendrein nur 12 Prozent der Patientinnen auf die Behandlungen überhaupt angesprochen hätten, sei eine Verschlechterung aufgrund der Unterdosierung nicht messbar.
Jedenfalls ist laut Gericht nicht davon auszugehen, dass bei ordnungsgemäßer Dosierung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein positiver Effekt eingetreten wäre: „Bei 88 Prozent der Patienten stellt sich vielmehr auch im Falle einer ordnungsgemäßen Dosierung keine Wirkung ein. Ob die Erblasserin zu den 12 Prozent gehört hätte, die von der Therapie profitieren, kann vorliegend nicht geklärt werden. Damit bleibt offen, ob der weitere Krankheitsverlauf auf die Unterdosierung von Medikamenten zurückzuführen ist.“
Unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände wurde das Schmerzensgeld zugunsten der Verstorbenen allerdings nur auf 6000 Euro festgesetzt. Einen Anspruch auf Schmerzensgeld für den Witwer erkannte das Gericht nicht: Ein Schadenersatz für das den Hinterbliebenen zugefügte seelische Leid komme nicht in Betracht, da die Regelung nach § 844 Abs. 3 BGB erst für Todesfälle nach dem 22. Juli 2017 gelte.
Ein Schmerzensgeldanspruch aus eigenem Recht komme dagegen nur für solche psychisch vermittelten Beeinträchtigungen in Betracht, wo es „zu gewichtigen psychopathologischen Ausfällen von einiger Dauer kommt, die die auch sonst nicht leichten Nachteile, wie sie bei Tod oder schwerer Verletzung von Verwandten auftreten, erheblich übersteigen und deshalb auch nach allgemeiner Verkehrsauffassung als Verletzung des Körpers oder der Gesundheit betrachtet werden“.
Auch wenn eine übertriebene Strenge unangebracht sei, gebe es im konkreten Fall dafür keine ausreichenden Belege. „Allein der ohne weiteres nachzuempfindende Umstand, dass der Kläger den Verlust seiner Ehefrau psychisch – gegebenenfalls als Folge der Tat – noch nicht verarbeitet hat, rechtfertigt nach den dargestellten Grundsätzen kein Schmerzensgeld.“