Norbert Mertens

Der Aussteiger-Apotheker

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Berlin -

„Mein Nachbar ist New Buffalo. Ich laufe zu Fuß zum Rio Grande und bade in den heißen Quellen.“ Apotheker Norbert Mertens hat das gemacht, wovon so mancher Kollege träumt: Er hat seine Delphin-Apotheke in Paderborn verkauft, ist mit seiner Familie ausgewandert und lebt jetzt auf einer Ranch in New Mexico, USA. Das amerikanische Gesundheitssystem aus der Nähe betrachtet hat auch seinen Blick auf die Situation der Apotheken in Deutschland geschärft.

Der Anfang vom Abschied war für Mertens die Causa DocMorris, insbesondere „der offene Rechtsbruch von Herrn Hecken“. Dass der damalige saarländische Justiz- und Gesundheitsminister und heutige Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Josef Hecken (CDU), der Kapitalgesellschaft trotz bestehendem Fremdbesitzverbot eine Betriebserlaubnis erteilte, hat Mertens' Glauben an den Rechtsstaat erschüttert.

Ein höchstrichterliches Urteil zu Apothekenketten hätte er akzeptiert. Hecken habe sich aber nur ein Gutachten aus Steuermitteln schreiben lassen und damit alle demokratischen Gepflogenheiten ausgehebelt. „Das gerät schnell in Vergessenheit, aber für mich ist da überhaupt kein Gras drüber gewachsen“, so der Apotheker, den die „öffentliche Hetzjagd“ auf die Apotheker zu dieser Zeit auch gesundheitlich mitgenommen habe. Damals reifte in ihm der Entschluss, Deutschland zu verlassen.

Da seine Frau Amerikanerin ist und Familie in New Mexico hat, bot sich ein gute Option. Am 10. August vergangenen Jahres wanderte der Apotheker aus. Ganz aus der Welt ist er aber nicht: Mertens ist regelmäßig in Deutschland und bietet Kollegen eine Art Unternehmensberatung, auch und vor allem in Krisensituationen.

Sein zweites Standbein ist der Tourismus: Mertens bietet für deutsche Touristen unter anderem geführte Motorradtouren. Der leidenschaftliche Biker ist neuerdings stolzer Besitzer einer Harley Davidson. Früher ist Mertens auf einer Ducati sogar Europameisterschaften gefahren. Unter www.justgoodtravel.de können USA-Interessierte bei Mertens aber auch Bildungsreisen über die indianische Kultur buchen.

Speziell für Apotheker gibt es zudem eine pharmazeutisch-interessierte Gruppenreise. Mertens zeigt deutschen Kollegen verschiedene Apotheken und andere Einrichtungen des Gesundheitswesens. „Bis jetzt habe ich hier eine einzige vernünftige Apotheke gefunden, und die ist mit dem Auto anderthalb Stunden entfernt“, sagt Mertens.

In den USA als Apotheker zu arbeiten, nein, das sei für ihn nie infrage gekommen. „Man hat hier ständig das Gefühl, das Gesundheitssystem dient nur der Großindustrie, nicht den Menschen.“ In Deutschland konterkarierten 20.000 Besserwisser die Marketingstrategien der Industrie. In den USA komme der Kunde in die Apotheke, um Aspirin zu kaufen, egal wogegen.

Zweimal wollte Mertens einen Hustenlöser kaufen, zweimal ohne Erfolg. „Der Apotheker ist für Non-Rx nicht zuständig. Der kennt seine Produkte gar nicht“, beklagt Mertens. Nachdem ihm der Kollege hintereinander drei Hustenstiller aus dem Regal geholt hatte, fragte Mertens konkret nach NAC. Aber Acetylcystein ist in den USA verschreibungspflichtig. „Ask your doctor“ sei überhaupt ein Satz, den man erschreckend oft höre in US-Apotheken, findet Mertens. Vor allem beim Thema Wechselwirkung seien die Kollegen nicht besonders sattelfest.

Die Apotheke als erste Anlaufstelle im Gesundheitswesen gebe es in den USA nicht. „Das Verhältnis Patient-Apotheker ist absolut unterirdisch, nicht vorhanden. Die maßgebliche Qualität ist der One-stop-shop. Ich lade jeden ein, sich das vor Ort anzusehen“, so Mertens.

Das ist wörtlich gemeint. Neben seinen Touristentouren bietet er Kollegen die Gelegenheit zu einem vorübergehenden Ausstieg an: ein sogenanntes Quarter-Sabbatical. Apothekenleiter in Deutschland dürften bis zu 90 Tage abwesend sein. Wer will, kann für ein Vierteljahr bei Mertens eine Wohnung mieten und „in eines anderes Leben eintauchen“ – „Entschleunigung“ ist das Zauberwort.

Mertens hatte sich schon mit 26 Jahren selbstständig gemacht – und seinen Beruf geliebt. Doch in den vergangen Jahren habe sich das Verhältnis von Kontrolleuren und Leistungserbringern massiv verschoben. Das Finanzamt, die eigene Kammer, die Krankenkassen – ständig stelle jemand irgendwelche Forderungen. Früher habe er als Chef 100 Kunden am Tag bedient, das sei wegen der administrativen Tätigkeiten immer weniger geworden. „Und ich habe mich immer öfter gefragt: Was ist hier eigentlich meine Aufgabe?“

Er sei sehr glücklich, einen guten Nachfolger gefunden zu haben, der ähnliche ethisch-moralische Vorstellung der Berufsausübung habe, Mitarbeiter und Kunden wisse er in guten Händen. „Man sollte wissen, wenn man seinen Platz nicht mehr in optimaler Weise ausfüllen kann und dann nach einer besseren Lösung suchen. Und man sollte Liebe zu dem haben, was man tut, das ist mir in den letzten Jahren der Hetzjagd durch Celesio und Herrn Hecken abhanden gekommen.“

Ob er noch einmal dauerhaft nach Deutschland zurückkehrt? „Das hängt von meinen Kindern ab, dem maßgeblichen Zentrum meines Lebens.“ Die beiden gehen jetzt in den USA zur Schule. „Ich persönlich lebe hier sehr gut und fühle mich hier sehr wohl.“

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