Genitalverstümmelung

Immer mehr beschnittene Frauen in Deutschland

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Berlin -

Es ist nicht nur ein Thema Afrikas: Auch in Deutschland leben beschnittene Frauen. Mit dem Zuzug von Flüchtlingen dürften es mehr geworden sein. Sind Tausende Mädchen in Gefahr, ebenfalls Opfer des grausamen Rituals zu werden?

Erinnern kann sie sich nicht an den Eingriff. Das Bewusstsein kam mit den Schmerzen bei der ersten Menstruation. Deqo ist 19, Somalierin und als kleines Kind Opfer einer Genitalverstümmelung geworden. Heute kämpft sie mit den schweren Folgen. Deqo heißt eigentlich anders. Den Namen hat sie gewählt, um ihre Geschichte zu erzählen. Sie spricht über ihr Schicksal, weil sie es anderen ersparen will.

Die junge Frau sitzt im weiß-blauen Nachthemd auf ihrem Bett im Berliner Krankenhaus Waldfriede. Ihre Worte werden von einer Klinik-Dolmetscherin übersetzt. Deqo ist seit etwas mehr als einem halben Jahr in Deutschland, geflüchtet über Libyen und das Mittelmeer. Inzwischen lebt sie in Niedersachsen, hat einen Asylantrag gestellt.

In Somalia sei es nicht sicher, begründet Deqo ihre Flucht. Zudem konnte ihr kein Arzt weit und breit helfen. Selbst die Ärzte hierzulande nahe ihrer Flüchtlingsunterkunft waren ratlos.

Während sie erzählt, blickt Deqo ab und zu verloren im Raum umher. Gegen Ende ringt sie vergeblich um Fassung. Und doch: Trotz all der Belastung muss sie zwischendurch mehrmals laut lachen, weil sie eigentlich doch so viel Glück gehabt hat.

Eine ehrenamtliche Helferin ist mit Deqo nach Berlin gefahren, ins „Desert Flower Center“, das Frauen mit verstümmelten Genitalien seit 2013 chirurgisch und psychologisch versorgt – als damals erste Klinik dieser Art in Europa. Die im Grünen gelegene Klinik im Berliner Südwesten kooperiert eng mit der Stiftung des Ex-Models Waris Dirie („Wüstenblume“), die als Nomadentochter beschnitten wurde und seitdem gegen Genitalverstümmelung kämpft.

Oberärztin Dr. Cornelia Strunz beobachtet seit einer Weile, dass die Anfragen aus Flüchtlingsunterkünften mehr werden. Sozialarbeiter und Betreuer minderjähriger Mädchen fragten telefonisch an, weil es ihren Schützlingen nicht gut gehe, berichtet sie. Sie litten unter starken Schmerzen bei der Menstruation und wiederkehrenden Entzündungen.

Das klingt relativ harmlos. Doch oft steckt mehr hinter den angeblichen „Bauchschmerzen“. Deqo zum Beispiel hat vor drei Jahren ein Kind zur Welt gebracht, obwohl ihre Genitalien massiv verstümmelt worden.

Je nach Region unterscheiden sich die Eingriffe stark: Sie reichen von rituellen Einritzungen der Klitoris bis hin zur kompletten Entfernung der äußeren Genitalien. Bei der sogenannten pharaonischen Beschneidung werden die Frauen danach fast vollständig vernäht, Urin und Menstruationsblut tröpfeln über ein eingesetztes Röhrchen heraus. Die Blase zu leeren, kann in diesen Fällen eine halbe Stunde dauern. Vor dem ersten Sex greife der Mann zum Messer, schildern Mediziner.

Eine relativ leichte Form der Beschneidung erkennen Frauenärzte und Hebammen hierzulande oft nicht einmal. Anders bei Frauen wie Deqo: Wenn sich ein Baby durch den künstlich verengten Geburtskanal zwängen muss, können Enddarm und Scheide durchstoßen werden. Betroffene verlieren die Kontrolle nicht nur über ihre Blase. Sie bekommen chronische Entzündungen und Fistelprobleme. Nicht nur Deqos Kind starb kurz nach der Geburt.

Entbindungen bei solchen Patientinnen sind neu für Mediziner in Deutschland. Der Mainzer Frauenarzt Dr. Werner Harlfinger jedoch blickt zurück auf Jahre des Engagements in Äthiopien und erhält nun immer wieder Anrufe aus Flüchtlingsheimen. Ein Kaiserschnitt sei in solchen Fällen kein Muss, unter Umständen könnten Betroffene auch auf natürlichem Weg gebären, sagt Harlfinger. Man muss nur wissen, wie. Deutschland sieht er „überhaupt nicht“ auf die gesundheitlichen und psychischen Probleme dieser Frauen eingestellt.

Offizielle Zahlen, wie viele in Deutschland lebende Frauen verstümmelt sind, gibt es nicht. In einer im Juni vorgelegten Hochrechnung der Frauenrechtsorganisation „Terre des femmes“ (TDF) wird geschätzt, dass 48.000 Frauen betroffen und mehr als 9300 Mädchen gefährdet sind. Das ist eine deutliche Zunahme im Vergleich zu früher, was vor allem auf die wachsende Migration aus Eritrea und Somalia zurückgeht. Den Daten liegt die Annahme zugrunde, dass der Anteil Betroffener hier so hoch ist wie im Herkunftsland.

Die Entwicklung bemerken bislang allenfalls Spezialisten wie Harlfinger und Strunz sowie Hebammen in Flüchtlingsunterkünften. Weder der Berufsverband der Frauenärzte noch Kliniken in Stadtteilen mit hohem Migrantenanteil berichten von besonders vielen beschnittenen Patientinnen.

In Berlin arbeitet Idah Nabaterrega, TDF-Fachreferentin für Genitalverstümmelung, mit Menschen aus afrikanischen Ländern daran, einen Gesinnungswandel herbeizuführen. Ein Projekt dazu ist im Frühjahr in mehreren europäischen Ländern angelaufen. Als langfristige Folge erhofft man sich, dass beschnittene Frauen den Kreislauf durchbrechen und ihren Töchtern das Ritual ersparen.

Der Trend geht aus Sicht von TDF dahin, Mädchen in immer jüngerem Alter beschneiden zu lassen – als Säugling. So bekämen sie bewusst nichts von dem Eingriff mit und könnten nicht davon erzählen. Genitalverstümmelung ist in Deutschland inzwischen strafbar.

Mehrere Ärzte berichten, sie hätten von heimlichen Eingriffen in Deutschland gehört. Beschneiderinnen würden eingeflogen, die Kinder schick angezogen, die Beschneidung am Wochenende in abgeschiedenen Rohbauten vorgenommen. Der Druck in der Community sei immens. Gynäkologe Harlfinger spricht von einer „Wand des Schweigens“ und zieht Vergleiche zu „Geheimbünden“.

Sind das nur böse Gerüchte? „Dass niemand die Geschichten belegen kann, muss nicht heißen, dass sie nicht wahr sind“, sagt ein Berliner Arzt – und mit Blick auf die Communities: „Die haben ein System, Komplikationen zu behandeln, ohne dass es auffliegt.“ Andere wiederum argumentieren: Wenn jemand von solchen Taten wüsste, würde er nicht Alarm schlagen?

Angezeigt wurde in Berlin kein einziger Fall, seitdem es den Straftatbestand gibt. An Europas größter Uniklinik, der Berliner Charité, hat man keinerlei Anhaltspunkte. Der Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, Jakob Maske, sagt, es gebe wenige bis gar keine Fälle. Größere Kinder werden allerdings im Genitalbereich nicht angeschaut. Aber auch Maske sagt: „Bei Flüchtlingskindern legen wir vermehrt Augenmerk drauf.“

Experten sind der Ansicht, dass es Flüchtlingen an Kontakten mangele und sie gewichtigere Probleme als die Beschneidung ihrer Töchter hätten. Für gefährdet halten sie eher Kinder in Familien, die bereits in Deutschland sozialisiert sind. Deqo hat in ihrer Heimat Frauen getroffen, die schon länger in der EU leben, aber zur Beschneidung ihrer Töchter nach Hause kommen. Wie Deqo vertreten manche Frauen aber auch die Ansicht, dass das Ritual falsch ist.

Andere wiederum lehnen jede Veränderung ab. Ein Teil der Frauen fordere ausdrücklich, dass in ihrem Intimbereich nichts verändert wird, sagt Dr. Babett Ramsauer, Geburtsmedizinerin an einem Klinikum in Berlin-Neukölln. Die Frauen nach einer Entbindung wieder zu verschließen, ist Ärzten in Deutschland aber verboten.

Manche der Patientinnen seien vorher noch nie bei einem Frauenarzt gewesen. „Sie kennen sich selbst da unten nicht und schalten ihren Intimbereich völlig ab“, so Ramsauer.„Die Frauen wollen ihre Weiblichkeit zurück“, sagt Cornelia Strunz vom „Desert Flower Center“ über die Beweggründe mancher Frauen, die sich einer Operation unterziehen.

Jeden Monat werden dort mehreren Frauen die Genitalien rekonstruiert, so dass sie wieder normal Wasser lassen und Kinder gebären können. Mal übernimmt das Sozialamt die Kosten, mal werden sie aus Spenden finanziert. Ob Deqo wieder Kinder bekommen kann, weiß die junge Frau nicht. Ihr stehen mehrere Ops bevor.

Um Genitalverstümmelung zu verhindern, müssen aus Sicht von Experten Grundfeste umgestoßen werden. “Terre des femmes“ will das in dem Projekt „Change Plus“ mit gut vernetzten Menschen aus den Communities erreichen, die eigens geschult werden. Sie sollen ab September potenziell gefährdete Familien in ihren Reihen erkennen und das Gespräch über die Notwendigkeit der Eingriffe suchen. In Berlin sind das zum Beispiel vier afrikanische Frauen und zwei Männer, in Hamburg ist den Angaben zufolge auch ein Imam dabei. Dass Genitalverstümmelung nichts mit Religion zu tun hat, betont auch Vorkämpferin Waris Dirie.

Ein Tabu-Thema seien die Eingriffe in den Communities langsam nicht mehr, sagt Idah Nabaterrega. In einem früheren Projekt, das von 2013 bis 2015 lief, habe es aber durchaus Widerstand gegeben: Die Menschen hätten sich Hilfe eher in anderen Fragen gewünscht. Wohnung und Arbeit zu finden, zum Beispiel. Männer sähen sich oft als nicht zuständig. Die Frauenrechtlerinnen sehen das anders: Bei Genitalverstümmelung gehe es letztlich stets um Männer und generell um die Kontrolle der weiblichen Sexualität, sagt Idah Nabaterrega. Mädchen können so in jedem Fall als Jungfrauen verheiratet werden.

Es geht nicht nur um Aufklärung, sondern auch darum, die Strafbarkeit zur Sprache zu bringen. Jedoch gehen Kinder in der Regel nicht gegen die eigenen Eltern vor. „Da darf man auch nicht über die Betroffenen hinweggehen, damit man endlich öffentlichkeitswirksame Gerichtsverfahren hat“, sagt TDF-Mitarbeiterin Linda Ederberg. Familien handelten ja im Glauben, das Beste für ihr Kind zu tun.

Deqo in Berlin lässt ihre Dolmetscherin betonen, niemand, egal wo, dürfe der eigenen Tochter antun, was ihr angetan wurde. Sie ist immerhin zuversichtlich, wieder gesund zu werden. Ein bisschen aufgeatmet hat sie schon: In Berlin angekommen, konnten die Ärzte ihr eine große Sorge nehmen – die von angeblich drei Tumoren in ihrem Bauch. Die Tumore hat sie gar nicht. Sie gingen auf einen Übersetzungsfehler im ersten Krankenhaus zurück.

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