Arzneimittel vom Schäfer Julia Pradel, 16.11.2014 10:51 Uhr
Der Schäfer Philipp Heinrich Ast, meist nur Schäfer Ast genannt, ist im Norden Niedersachsen gut bekannt: Ende des 19. Jahrhunderts kamen Tausende von Menschen zu Ast, um sich von ihm heilen zu lassen. Als die Juristen auf den Schäfer, der Diagnosen stellte und Heilmittel abgab, aufmerksam wurden, zog er den Apotheker Theodor Meinecke aus Winsen hinzu. Seine Urenkelin Rosemarie Schmidt leitet die Alte Rats-Apotheke und verkauft noch heute Rezepturen von Schäfer Ast.
Ast kam 1848 in Gronau im Süden Niedersachsens zur Welt. Die Mitglieder seiner Familie arbeiteten traditionell nicht nur als Schäfer, sondern behandelten außerdem Tiere und Menschen. Von seinem Vater lernte Ast die Heilkunst. Nach seiner Ausbildung zum Schäfer kam er in das kleine Dorf Radbruch zwischen Lüneburg und Winsen.
Zunächst arbeitete er nur als Schäfer. Er begann aber bald, sich mit der Heilung von Tieren und später auch Menschen etwas dazu zu verdienen. Für die Diagnose schnitt Ast seinen Patienten Haare aus dem Nacken – aus Sicht der Apothekerin Schmidt eher Show. Sie geht davon aus, dass sich der Schäfer sehr gut auf die Antlitzanalyse verstand. Bei diesem von Wilhelm Heinrich Schüßler entwickelte Diagnoseverfahren werden Mineralstoffmängel im Gesicht eines Menschen analysiert.
Nach der Diagnose gab Schäfer Ast verschiedene Medikamente, die er selbst aus Kräutern nach Anleitungen aus einem Rezeptbuch seines Vaters zusammenmischte. Sein Heilmethoden riefen schnell die Juristen auf den Plan, die ihn als Scharlatan einordneten. Immer wieder musste er vor Gericht, Strafen zahlen und sogar für zwei Monate ins Gefängnis. Problematisch war auch, dass er die Mittel selbst abgab – denn eine Trennung von Arzt und Apotheke gab es schon damals.
Mithilfe des Winsener Apothekers Meinecke schlug Ast den Juristen schließlich ein Schnippchen: Seit 1895 gab er seine Arzneimittel nicht mehr selbst ab, sondern schickte die Patienten mit einem Zettel mit einer Nummer – der jeweiligen Rezeptur in dem Buch seines Vaters – in die Apotheke. Meinecke hatte die Rezepturen zusammen mit Ast verfeinert, mischte die Mittel nach dessen Anleitung und gab sie an die Kunden ab.
Mit seiner Heilmethode wurde Schäfer Ast schnell über die Grenzen Niedersachsens hinaus bekannt. Im Jahr 1894 behandelte er an einigen Tagen bis zu 1000 Patienten. Davon profitierte auch der Ort Radbruch: die Gasthäuser, Droschken-Fahrer und Bahngesellschaft. Die Schaffner kamen mit dem Drucken von Fahrkarten kaum hinterher und gaben schließlich Gruppenfahrkarten aus. Selbst Berliner Zeitungen berichteten über den Schäfer und auch der deutsche Kaiser Wilhelm I. soll eine Locke zu ihm geschickt haben.
Auch die Apotheke profitierte von Asts Berühmtheit. Die Apotheke existierte bereits seit 1669 in Winsen und ist seit 1804 im Besitz der Familie der heutigen Inhaberin. Nachdem Ast untersagt worden war, seine Mittel selbst abzugeben, strömten die Patienten in die kleine Apotheke. Meinecke baute bald ein neues Apothekenhaus, in das er 1897 zog. An der Stelle befindet sich die Apotheke noch heute.
Der Hype um die Heilmittel des Schäfers Ast setzte sich auch nach seinem Tod im Jahr 1921 fort. Schmidt erinnert sich noch gut an ihre Kindheit: Damals kamen Patienten mit Bussen zu der Apotheke, bestellten die Mittel und holten sie kurz darauf ab. Dabei konnte es schon vorkommen, dass plötzlich 20 bis 30 Patienten in der Offizin standen. Schmidt kennt auch noch die Enkelin von Schäfer Ast, die nach ihrer Heilpraktiker-Ausbildung in Radbruch noch die Medikamente ihres Großvaters verschrieb.
Heute verkauft Schmidt noch 18 Arzneimittel, die auf den Rezepten von Schäfer Ast basieren und die immer wieder weiter entwickelt wurden. Verkaufsschlager sind die „Spezialtropfen H“, die ätherische Öle von Zitronenmelisse und Zitrone enthalten und gegen nervöse und krampfartige Beschwerden, nervöse Schwindelanfälle und Nervenschmerzen eingesetzt werden. Besonders beliebt ist das Mittel Schmidt zufolge bei Patienten, die unter Meralgia paraesthetica leiden und das Medikament oft über das Internet bestellen.
Die genaue Zusammensetzung der Mittel – es gibt auch die Spezialsalben grün, weiß und rot oder Haarwasser mit und ohne Fett – ist Schmidts Geheimnis, auch wenn die Inhaltsstoffe natürlich auf dem jeweiligen Arzneimittel vermerkt sind. Einige der Tinkturen, die sie für die Herstellung braucht, müssen in der Apotheke selbst hergestellt werden, da sie nicht mehr eingekauft werden können. Für Schmidt sind die Rezepturen heute ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal: Immer noch kämen einige Patienten nur wegen der Heilmittel von Schäfer Ast.