Es klingt ganz einfach: Seekarte einprägen und aus dem Kopf mit einem Boot den Weg abfahren. Nach einer guten Reise gibt es beim Spiel Sea Hero Quest drei Sterne als Belohnung. Was für 2,5 Millionen Menschen weltweit ein amüsantes Navigations-Spiel auf dem Handy ist, hat der Demenzforschung im Eiltempo große Datenberge verschafft. Für sie scheint nun ein großes Problem gelöst.
Bisher mangelte es an Normdaten über die räumliche Orientierung in verschiedenen Altersklassen. In welchem Alter können sich Menschen am besten orientieren? Und ab wann sind Orientierungsverluste ein ernstes Krankheitssymptom? Mit den umfangreichen Daten des Handy-Spiels lasse sich nun gesichert darauf schließen, welche Orientierungsleistungen in welchem Alter als normal angesehen werden können, sagt der stellvertretende Direktor der Klinik für Neurologie der Charité Berlin, Prof. Stephan Brandt. Ausgewertet wurden die Daten an Universitäten in London und Norwich.
Die Forscher fanden unter anderem heraus, dass 19-Jährige am besten navigieren können und das Ziel mit 74-prozentiger Wahrscheinlichkeit erreichten. Dagegen sank die Trefferquote auf durchschnittlich 46 Prozent bei den 75-Jährigen. „Demenz wird meist bei Menschen ab 60 Jahren diagnostiziert. Sie fängt aber schon viel früher an, man merkt es bloß nicht“, sagt Charité-Professor Brandt, der an der Auswertung der Daten nicht beteiligt war.
Seit Mai sei ein Datensatz entstanden, für den man mit Laborversuchen 9500 Jahre gebraucht hätte, teilt die Telekom als technischer Partner des Projekts mit. „Im nächsten Schritt können diese Daten die Möglichkeit geben, das Spiel bei der Diagnose von Demenz einzusetzen“, ergänzt Brandt. Demenz werde zwar vor allem mit dem Verlust des Gedächtnisses verbunden. „Sie wirkt sich aber auch auf die räumliche Orientierung aus – und irgendwann findet man den Supermarkt nicht mehr.“
Doch ist die Orientierung auf dem Handy-Bildschirm wirklich mit der Orientierung im Alltag vergleichbar? „Ich glaube, der Vergleich ist nur eingeschränkt möglich“, sagt Professor Josef Kessler von der Uniklinik Köln. Der kleine Bildschirm eines Smartphones mache die Orientierung schwieriger und habe etwa mit dem Zurechtfinden auf einer Landkarte nichts gemein. „Außerdem stellt sich die Frage, wie unterschiedlich die Vorerfahrungen der Spieler in der Smartphone-Nutzung sind“, sagt der Neurologe.
Zudem hängen die Ergebnisse von der Konzentration ab, die Nutzer für das Spiel aufbringen. Denn in erster Linie ist das Spiel Sea Hero Quest ein kurzweiliger Zeitvertreib. Frank Griesel etwa hat es im Zug erprobt. „Was soll man im Zug auch sonst machen“, sagt der 48-Jährige, der sämtliche Level durchgespielt hat. „Das Spiel wird immer schwieriger, vor allem mit Regen und bei Wellengang. Wenn man in ein Wellental fährt, sieht man die Ziele oft gar nicht mehr“, sagt Griesel.
Die Telekom ist sich dennoch sicher, dass die Forschung von den riesigen Datenmengen profitieren wird. „Wir besetzen seit über sechs Jahren das strategische Feld Gesundheit und Digitalisierung und konnten den Wissenschaftlern so die Möglichkeit geben, die Smartphones für die Forschung einzusetzen“, sagt Axel Wehmeier, Geschäftsführer von Telekom Healthcare Solutions. Vom Erfolg des Spiels zeigt er sich überrascht, mit einer siebenstelligen Spielerzahl hatte man nicht gerechnet – und der Datenberg wächst täglich.
Auch der Kölner Professor Kessler hält die Nutzung des Internets für die Grundlagenforschung prinzipiell für einen guten Schritt. Ob das Spiel nun aber als Diagnose-Test für Patienten eingesetzt werden kann oder so ein Test überhaupt benötigt wird, bezweifelt er: „Schon Leute mit einer mittleren Demenz werden nach meiner Erfahrung nicht mehr mit dem Spiel klar kommen.“
APOTHEKE ADHOC Debatte