„Nein, ich packe die Drogerie-Creme nicht ein“ Anja Alchemilla, 29.12.2018 15:38 Uhr
So schön es dieses Jahr war, die zusammenhängenden Feiertage zu nutzen, so sehr hofft Anja Alchemilla, dass bald alles wieder seinen normalen Gang geht. Die halbe Belegschaft hat Urlaub, die Ärzte sind zwischen Weihnachten und Neujahr nicht zu erreichen, aber krank werden die Kunden dennoch. Das bedeutet einiges an Stress für den Jahresausklang.
Anja schimpft: „Ausgerechnet heute kommt auch noch der Fahrer zu spät!" Sie steht nur mit ihrer PTA zusammen in der Offizin und lässt den Telefonhörer langsam sinken. Sie wendet sich zum Kunden: „Herr Müller, es ist mir wirklich unangenehm, aber unser Großhandel hat offenbar technische Probleme. Die Lieferung verzögert sich mindestens noch um weitere zwanzig Minuten. Und wir sind nicht mal sicher, ob alles komplett geliefert wird oder ob einzelne Medikamente fehlen.“
Der Kunde hatte in der Sitzgruppe der kleinen Filiale Platz genommen und bereits alle Zeitschriften durchgeblättert. Er wartete seit einer guten halben Stunde auf seine Arzneimittel und man sah ihm an, dass er langsam mürbe wurde und die Geduld verlor. Anja versucht, ihn milde zu stimmen: „Wir machen das jetzt so: Sie gehen schon einmal nach Hause und ich bringe ihnen in der Mittagspause alles, was der Großhandel ausliefert. Was fehlt, bestellen wir bei einem anderen Lieferanten nach und sie bekommen das mit unserem Botendienst heute Abend.“
Erleichtert blickt der Kunde zur Apothekerin. „Das ist gut. Wissen sie, ich bekomme jetzt auch gleich mein Essen geliefert und wenn ich nicht zu Hause bin, geben sie es beim Nachbarn ab. Dann ist alles kalt und aufgewärmt schmeckt es ja nicht mehr. Sie brauchen sich nicht bemühen wegen der Medikamente. Liefern Sie mir einfach alles, wenn es komplett ist. Ich bin heute Abend zu Hause.“ Mühsam steht er auf und macht sich auf den Weg. „Gut. Ein Problem weniger“, denkt Anja.
Die nächste Herausforderung wartet ja bereits in der Rezeptur auf sie. Ihre PTA hatte die Aufgabe, bis zum Nachmittag während des laufenden Betriebes fünfzig Kapseln für einen herzkranken Säugling herzustellen. Er wurde Weihnachten aus dem Krankenhaus entlassen und die Eltern hatten nur für die Feiertage genügend Medikamente mitbekommen.
Zu allem Überfluss war das Entlassrezept fehlerhaft ausgefüllt und mit der Hand derart undeutlich geschrieben, dass die Wirkstoffmenge bestenfalls zu erraten war. Also muss Anja erst einmal den Arzt an die Strippe bekommen, um die Angaben auf dem Rezept nachvollziehen zu können. Und natürlich auch, um sich eine neue Verordnung ausstellen zu lassen.
In Krankenhäusern den behandelnden Arzt zu erwischen, ist schon an normalen Tagen beinahe ein Ding der Unmöglichkeit. Und heute offensichtlich noch schwieriger als sonst. Die Dame vom Empfang teilt Anja mit, dass die Station heillos überlastet ist. Der Arzt hat es außerdem versäumt, die korrekte Dosierung in den Entlassbrief einzutragen, also gilt es zu warten, bis er ans Telefon kommen kann. Da sich die Kunden in der Offizin inzwischen beinahe auf den Füßen stehen, stellt Anja den Lautsprecher am Mobilteil auf „laut“ und legt den Hörer mit der Pausenmusik auf die Seite während sie bedient.
Die erste Kundin stellt eine Tüte vor ihr auf den HV-Tisch und blickt sie treuherzig an. „Frau Alchemilla, gut dass Sie da sind! Sie können doch so schön Geschenke einpacken! Ich habe in der Drogerie nebenan eine Körpermilch für meine Schwester gekauft. Können Sie mir die eben noch verpacken?"
Anja zählt innerlich bis zehn, schließt die Augen und versucht sich die „liegende Acht“ zu visualisieren, um nicht zu explodieren. Das hatte sie vor Kurzem in einer Fortbildungsveranstaltung gehört, und es kann helfen in solchen Situationen nicht ausfällig zu werden. Wie sagte schon die Lyrikerin Gudrun Zydek: „Wer Gelassenheit sein Eigen nennt, kann mit allem fertig werden!" Anjas Antwort: „Frau Maier, wenn Sie bei uns eingekauft hätten jederzeit, aber so muss ich Sie bitten, das Geschenk selbst einzupacken. Kann ich sonst noch irgendetwas für Sie tun?“ Gut, dass die Feiertage bald hinter uns liegen.