Wenn der Psychiater nach Hause kommt dpa, 13.07.2017 11:03 Uhr
Psychiatrie – nicht selten läuft bei diesem Stichwort der Filmklassiker „Einer flog übers Kuckucksnest“ im Kopfkino ab: Verrückte, die hinter verriegelten Türen in Schach gehalten werden. In einem Berliner Modellversuch ist alles ganz anders. Der Psychiater kommt zum Patienten nach Hause.
Max nennt sich Max, weil niemand seinen wirklichen Namen lesen soll. Noch nicht einmal den Vornamen. „Psychiatrie, das ist wie ein Stempel“, sagt er. „Ich bin aber nicht irre.“ Max ist 71 Jahre alt. Vor kurzem ist seine Frau gestorben. Ein plötzlicher Tod es gab keine Vorboten. Max hat das nicht verkraftet. Er wollte auch sterben. Wer beispielsweise in Berlin nachts glaubhaft Suizidgedanken äußert, findet sich schnell in der Notaufnahme einer Klinik wieder – und danach nicht selten in der Psychiatrie. „Es war nur eine Nacht. Aber diese Erfahrung wünsche ich niemandem“, sagt Max zu diesem Kapitel.
Es fiel ihm nicht leicht, zu verstehen, dass der Tod seiner Frau bei ihm eine schwere Depression ausgelöst hat. Eine seelische Krankheit, die unbehandelt schlimmer wird. Bei Max war sie zu stark, um ihm in einer Praxis oder Ambulanz eine Therapie anzubieten. „Ich lag nur im Bett, null Antrieb“, erinnert er sich. So blieb nur die Klinik als Ausweg. Nach ersten Erfolgen mit Medikamenten wollte Max aber nicht länger im Krankenhaus bleiben. Er wollte nach Hause.
Normalerweise wäre es bei seiner akuten psychischen Krise zu früh für eine Entlassung gewesen. Aber Max hat Glück gehabt, dass seine Krankenversicherung DAK seit einem Jahr mit den kommunalen Vivantes-Kliniken in den Berliner Stadtteilen Kreuzberg und Neukölln ein neues Modell testet: „Flexi-Team“ oder „Home Treatment“ heißt es. Weil Max nicht in der Klinik bleiben wollte, kommt sein behandelnder Arzt Matthias Bohe nun zu ihm nach Hause. Dass sein Besucher ein Facharzt ist, spezialisiert auf seelische Probleme, ignoriert Max geflissentlich. „Er kommt mit dem Rad. Und dann reden wir ein bisschen“, sagt er.
Matthias Bohe ist nicht der einzige mobile Vivantes-Psychiater. Sein Kollege Sandeep Rout aus dem Klinikum Neukölln trifft sich mit einem seiner Patienten regelmäßig am Zeitungskiosk. Ein Hausbesuch war dem Mann nicht Recht – er hatte Sorge, dass die Nachbarn reden. Für Sandeep Rout ist das in Ordnung so.
Schizophrenie und Psychosen machen rund ein Drittel aller Fälle in Berliner Krankenhauspsychiatrien aus, berichtet Dr. Ingrid Munk, Chefärztin der Psychiatrie am Klinikum Neukölln. Menschen haben Halluzinationen, Verfolgungswahn oder nehmen die Realität aus anderen Gründen verzerrt wahr. Manchmal sind auch Drogen im Spiel. „Eine schwere Krise irgendwann im Leben ist normal“, sagt Munk.
Psychiater arbeiten in der Hauptstadt meist in Praxen, Ambulanzen oder im Krankenhaus. Das Modellprojekt versucht, dieses starre System aufzubrechen. Das ist auch im Sinn des neuen Gesetzes zur Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung für psychiatrische Leistungen, kurz PsychVVG. Es sieht seit Jahresbeginn eine „stationsäquivalente psychiatrische Behandlung vor“ – zu deutsch: gleichwertige aufsuchende Hilfe statt eines Klinikaufenthalts.
Bundesweit ist das Berliner Modell kein Einzelfall. Das Uniklinikum Dresden hat zur Zeit 97 ähnliche Projekte im Blick und will auf lange Sicht Erfolge bei Patienten mit jenen vergleichen, die klassisch betreut werden. Dabei geht es auch um Kosten und Effizienz.
Ziel der Kooperation von Vivantes und Krankenkasse ist es, mehr auf die individuellen Wünsche und Fähigkeiten von Menschen mit seelischen Erkrankungen einzugehen – weg vom genormten „Fall“. Dafür vergibt die DAK für die psychiatrischen Kliniken ein Gesamtbudget von rund zwölf
Millionen Euro im Jahr. „Es ging nicht um Kostenersparnis“, betont Volker Röttsches, DAK-Leiter für Berlin und Brandenburg. Das Budget für die Psychiatrien sei gleich groß geblieben. Vivantes hat für das Modell acht Stellen zusätzlich geschaffen. Die Krankenhäuser können bei der Verwendung der Mittel nun frei zwischen ambulant, stationär, Hilfen zu Hause und vergleichbaren Leistungen entscheiden.
Was simpel klingt, ist für Klinikärzte eine große Befreiung. Denn bisher ist ein Patient entweder „ambulant“ oder „stationär“. „Dazwischen gibt es nichts“, sagt Professor Dr. Andreas Bechdolf, Chefarzt der Psychiatrie im Kreuzberger Klinikum Am Urban. „Alle denken zuerst an die Geldtöpfe, aber nicht an die Patienten.“ Die Niederlande, Großbritannien, Skandinavien, sie alle handhabten Hilfen inzwischen flexibel. „Nur bei uns wird das nicht finanziert, obwohl es sinnvoller ist“, ergänzt seine Kollegin Ingrid Munk.
Eine erste Zwischenbilanz des Modellversuchs nach einem Jahr? Weniger Menschen fielen durch das Raster, sagt Bachdolf. Die neue Verzahnung der Hilfsangebote auch außerhalb der Klinik bremse „Drehtüreffekte“ aus. Dabei verlassen Menschen zum Beispiel nach einer behandelten Psychose die Klinik, kommen zu Hause aber nicht zurecht. Und dann werden sie wieder eingeliefert.
Andere psychisch Kranke möchten nicht für längere Zeit in eine Klinik. Für junge Frauen spielt eine Rolle, dass sie ihre Kinder nicht allein lassen möchten. Für sie greife nun ein gleichwertiger Behandlungsplan, nur eben ohne Klinikbett, sagt Munk. „Eine akute psychische Erkrankung muss nicht immer Krankenhaus bedeuten.“ Natürlich sei aufsuchende Hilfe nicht bei allen seelisch kranken Menschen möglich. „Aber für bis zu einem Viertel von ihnen kann es nach unseren bisherigen Erfahrungen eine Alternative sein.“
Das Modellprojekt kann acht Jahre laufen. Im ersten Jahr haben rund 200 Patienten in Kreuzberg und Neukölln von dem neuen Ansatz profitiert. Von allen Behandelten im Programm hatten die Alternativ-Angebote nur bei zehn Prozent keinen Erfolg, berichten die Kliniken.
Psychiater Sandeep Rout vom Klinikum Neukölln fährt nun mit der U-Bahn zu einigen seiner Patienten. Er sieht bei seinen Hausbesuchen Hierarchien dahinschmelzen. „Wir sind bei unseren Patienten zu Gast“, sagt er. „Da fällt viel mehr ins Auge, was sie gut können. Und nicht zuerst, was sie alles nicht können.“
Die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit sieht das Kooperationsmodell erst einmal positiv. „Es ist gut, neue Wege zu erkunden und dadurch Schnittstellen zwischen ambulanter und klinischer Versorgung sowie anderen Angebotsformaten zu bedienen“, sagt Thomas Götz, Landesbeauftragter für Psychiatrie – und selbst vom Fach. Weniger gut findet er, dass das neue Konzept bei Vivantes nur Versicherten einer Krankenkasse zur Verfügung steht – und nicht allen Patienten. Vivantes sagt dazu, der Konzern habe auch bei anderen Kassen angefragt. Bisher sei keine Bereitschaft signalisiert worden.
Schon lange geht es in der Klinik-Psychiatrie darum, die Verweildauer von Patienten zu verringern. „Vor 30 Jahren waren wir bei 60 Tagen, heute sind es 16“, berichtet Munk. Dabei spiele nicht allein Einspar-Potenzial eine Rolle. Selten tue es gut, lange Zeit in einer Krankenhaus-Atmosphäre zu leben. Und die „Geschlossene“? Nur rund acht Prozent der Patienten seien nicht freiwillig in der Psychiatrie, antwortet die Ärztin. In der Regel hätten Richter sie eingewiesen, weil sie eine Gefahr für andere Menschen seien – oder für sich selbst.
Natürlich bedeute das neue Modell, begrenzt Risiken einzugehen, betont Chefärztin Munk. „Aber man kann auch niemanden einsperren.“ Das flexible Herangehen könne passen, wenn ein Patient ansprechbar sei und sich an die gemeinsam verabredeten Vereinbarungen halte. „In der Regel sind Patienten damit zufriedener – und ihre Angehörigen auch.“ Ein Plan für die Zukunft ist, die Flexi-Teams auch an die Notaufnahmen anzubinden. Damit Patienten, für die die neuen Hilfsangebote der Klinik passen, gar nicht erst auf die Psychiatriestation verlegt werden müssen.