Weil Menschen mit psychischen Problemen oft Jahre bis zum Beginn einer Therapie brauchen, will die Apotheken Umschau das Thema stärker ins Bewusstsein rücken. Apotheken sollen dabei zu den ersten Ansprechpartnern gehören, doch auf eine Unterstützung durch die Kassen können sie wohl erst einmal nicht hoffen.
Studienergebnisse der Technischen Universität München (TUM) und der Apotheken Umschau zeigen, dass 86 Prozent der Erwachsenen nicht wissen, wann bei psychischen Problemen Hilfe in Anspruch genommen werden sollte und wie sie überhaupt Unterstützungsangebote finden. Die Befragten haben auch Probleme, die Verlässlichkeit von Informationen einzuschätzen und zum Beispiel herauszufinden, ob Informationen frei von kommerziellen Interessen sind.
Nach dem Auftreten psychischer Symptome vergehen daher im Schnitt mehr als acht Jahre, bevor professionelle Hilfe gesucht wird. Die Studienautoren Professor Dr. Orkan Okan (TUM) und Professor Dr. Kai Kolpatzik (Apotheken Umschau) sehen deshalb dringenden Handlungsbedarf.
Die Ergebnisse sind heute in Berlin vorgestellt worden und erscheinen in der Reihe „Apotheken Umschau Impact“ unter dem Titel „Mentale Gesundheit: Defizite aufdecken – Stigma bekämpfen – Chancen ergreifen“. Im Februar will sich das Magazin erneut ausführlich mit dem Thema beschäftigen. Erste Lösungsansätze, in denen beispielsweise Apotheken eng mit der Generation Z im Bereich der Aufklärung zusammenarbeiten, werden im Papier ebenfalls adressiert.
Apotheken würden täglich von zwei Millionen Menschen aufgesucht und seien eine niedrigschwellige Anlaufstelle, da man hier auch ohne Termin und anonym um Rat und Hilfe bitten könne. Laut Kolpatzik gibt es bereits Erfahrungen aus Netzwerken, in denen bereits mehr als 130 Apothekenteams ihre Kundinnen und Kunden angesprochen haben.
Stephanie Engelmann, Mitglied des Vorstandes der KKH Kaufmännische Krankenkasse, erklärte, man müsse sehr früh ansetzen, um es gar nicht erst zu einer schweren Erkrankung kommen zu lassen: „Wir müssen in der Gesellschaft gesunde Verhältnisse schaffen, in denen die psychische Gesundheitskompetenz verbessert werden kann. Das erreichen wir über die Stärkung von Prävention und Selbsthilfe, einer öffentlichen Entstigmatisierung und einer noch effektiveren Versorgung und Betreuung von mental Belasteten und psychisch Erkrankten.“
Der Frage, ob ihre Kasse bereit wäre, die Apotheken für den Aufwand auch finanziell zu unterstützen, wich sie aus: Das sei ein Impuls, der an alle Krankenkassen gehen könne, aber kein Thema alleine für die KKH.
Die psychische Gesundheitskompetenz muss laut Okan dringend systematisch und flächendeckend gefördert werden. „Idealerweise beginnt die Förderung der psychischen Gesundheitskompetenz schon früh im Lebensverlauf in den Familien, Kitas und Schulen, setzt sich in den Universitäten, Betrieben und den Kommunen fort und berücksichtigt auch die digitalen Lebenswelten der Menschen.“
„Wenn neun von zehn Menschen massive Schwierigkeiten im Umgang mit Informationen zur psychischen Gesundheit und zu Erkrankungen haben oder bei der Einschätzung, wann eine professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden sollte, dann haben wir ein grundlegendes Problem in Deutschland“, so Kolpatzik, Experte am Institut für Digitale Gesundheit – SRH University of Applied Sciences Heidelberg und Chief Scientific Officer des Wort & Bild Verlags. „Der Handlungsdruck, neue Ansätze und Lösungen zu entwickeln, ist jetzt groß. Dringlicher kann ein Ergebnis nicht ausfallen.“
„Die psychische Gesundheitskompetenz ist eine wichtige Determinante für die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden“, so Okan. „Leider haben über 86 Prozent der Bevölkerung und über 79 Prozent der Auszubildenden eine geringe psychische Gesundheitskompetenz und somit große Schwierigkeiten im Umgang mit Informationen zur psychischen Gesundheit und damit, sich um ihr psychisches Wohlbefinden im Rahmen der Gesundheitsförderung, Krankheitsprävention und Gesundheitsversorgung im Lebensalltag zu kümmern.“
In Kooperation mit der Apotheken Umschau und dem WHO Collaborating Centre for Health Literacy hatte die TUM einen eigenständigen Fragebogen zur Messung der psychischen Gesundheitskompetenz entwickelt. Im Juli und August wurden damit bundesweit repräsentativ 2000 Personen ab 18 Jahren und 500 Auszubildende befragt.
Die Relevanz der psychischen Gesundheit zeigt sich den Autoren zufolge auch bei den volkswirtschaftlichen Kosten: Nach der letzten vorliegenden Statistik des Statistischen Bundesamtes (Destatis) belaufen sich die Behandlungskosten alleine der Depression auf 9,5 Milliarden Euro, die Produktions- und Ausfallkosten im Jahr 2022 auf 6,9 Milliarden Euro.
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