Flüchtlingsversorgung

Medikamente aus dem Briefkuvert

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Berlin -

Pensionierte Mediziner kümmern sich im mittelhessischen Wetzlar unentgeltlich um kranke Flüchtlinge. Eine 73-Jährige hat die „Rentner-Gang“ zusammengetrommelt. Ihre Kollegen fürchten den nahenden Winter. Schon jetzt häufen sich Infektionen.

Ein Kleinkind mit Bronchitis, ein alter Mann mit Rückenschmerzen, Vater und Sohn mit Bindehautentzündung. Krankheiten, wie sie in jeder Hausarztpraxis vorkommen könnten – aber diese Patienten sind Flüchtlinge. Sie leben in einer Zeltstadt in Mittelhessen. Die Krankheiten kommen nicht von ungefähr, betonen die Ärzte, die sich in Wetzlar freiwillig und unentgeltlich um kranke Asylsuchende kümmern.

„In den Zelten zieht es nachts“, sagt der Arzt, der den Alten mit dem schmerzenden Rücken behandelt. Er gibt ihm eine Salbe, zeigt ihm Dehnübungen und organisiert ihm eine zweite Decke. „Die hygienischen Verhältnisse sind nicht so toll“, erklärt seine Kollegin, als sie die entzündeten Augen sieht. Einmal mit schmutzigen Händen ins Gesicht fassen, und schon ist es geschehen.

470 Menschen leben laut Regierungspräsidium zurzeit in der Notunterkunft in Wetzlar, zeitweilig waren es mehr als 800. In den Camps gebe es zu wenige Mediziner, sagt Ärztin Ingrid Knell. Deswegen hat sie mit Hilfe des Roten Kreuzes eine Nothilfe-Praxis gegenüber des Lager-Eingangs aufgebaut. Die wenigen Kollegen im Camp seien „total überfordert“. „Was die leisten, ist mörderisch.“ Auf einen Arzt kämen bis zu 100 Patienten am Tag.

Die Ärzte in der Erstaufnahme würden „bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten arbeiten“, bestätigt Hessens Ärztepräsident Gottfried von Knoblauch zu Hatzbach. „Die ärztliche Versorgung hinkt hinterher.“ Im August schickte er einen Brandbrief an seine Kollegen: Jeder werde gebraucht, „ganz gleich, ob Vertragsarzt mit Zeit in den Abendstunden, Krankenhausarzt mit Kapazitäten am Wochenende, Ärzte in Familienzeit oder im Ruhestand.“

Knell war 40 Jahre lang angestellte Betriebsärztin, seit 25 Jahren ist sie beim Roten Kreuz aktiv. „Ich bin nicht der Typ, der die Füße still hält“, sagt die 73-Jährige. Neben ihrer Flüchtlingsarbeit führte sie gerade Regie in einer Oper, kümmert sich um den Kartenverkauf und spielt in den Aufführungen Geige.

Gerade mal zwei Wochen brauchte sie, um die Behelfs-Praxis aus dem Boden zu stampfen: Eine Physiotherapeutin und ein Sportverein gegenüber vom Camp-Eingang stellten Räume zu Verfügung. Das Rote Kreuz kümmerte sich um Logistik, Gerätschaften und Medikamente. Das Regierungspräsidium stimmte freudig zu und vermittelte Übersetzer.

Knell rief Kollegen an und überzeugte sie, mitzumachen. Inzwischen sind acht Ärzte dabei: Allgemeinmediziner, Internisten, Kinderärzte, sogar ein Traumatologe. Viele haben Erfahrungen in Entwicklungsländern oder in der Katastrophenhilfe. Margrit Wille half zuletzt nach dem Erdbeben in Nepal, demnächst geht sie nach Äthiopien. Alle Ärzte in der Praxis sind im Ruhestand und arbeiten ehrenamtlich. „Wir sind 'ne Rentner-Gang“, sagt Knell.

Seit Mitte Juli ist zweimal die Woche für zwei Stunden Sprechstunde: Dienstagabend und Freitagvormittag. Das Wartezimmer ist die Laderampe vor der Tür. Im Foyer steht ein halbes Dutzend Übersetzer Gewehr bei Fuß. Zwei Freiwillige vom Roten Kreuz machen den Job der Sprechstundenhilfe. An einem durchschnittlichen Tag kommen 50 oder 60 Patienten, manchmal sind es auch 150 – wenn gerade eine ansteckende Krankheit umgeht.

Vor einigen Wochen gab es Fälle von Hepatitis A. Alle Bewohner mussten zur Blutabgabe und wurden geimpft, wenn sie keinen Schutz hatten. Die Rot-Kreuz-Praxis griff den Kollegen von der Erstaufnahme unter die Arme, damit das schneller ging. Niemand durfte aus dem Lager in eine Kommune verlegt werden. Inzwischen sind alle immunisiert und dürften eigentlich raus aus den Zelten. „Aber jetzt sind uns Windpocken dazwischen gekommen“, sagt Knell.

„Die Flüchtlinge stellen unser Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen“, sagt Internist Klaus-Dieter Wolkewitz. Es gebe in den Lagern Krankheiten, „die viele junge Mediziner noch nie gesehen haben“, zum Beispiel Tuberkulose. Zwar werden alle Neuzugänge bei der Erstuntersuchung geröntgt, um die Krankheit auszuschließen. Aber sicher ist sicher, denken Wolkewitz und Wille und schicken die Frau mit dem schlimmen Husten schnellstens ins Krankenhaus.

Statt einer Krankenkassenkarte geben die Patienten den Hausausweis des Flüchtlingslagers ab. Unter der jeweiligen Identifikationsnummer werden Diagnose und Behandlung erfasst. Politisch wird gerade diskutiert, ob Flüchtlinge eine Gesundheitskarte bekommen sollen, um ihre medizinische Versorgung zu erleichtern. Bisher kann man sie nicht mal mit einem Rezept in die Apotheke schicken: Sie haben weder Geld noch eine Versichertenkarte und können oft nicht einmal Englisch.

Deswegen liegen für die meisten Fälle die Medikamente griffbereit in einem Schrank. Pillen aus Großpackungen werden abgezählt und in Briefkuverts umgefüllt, Hinweise zur Einnahme in Zeichensprache auf die Packung geschrieben. Die Salbe gegen Bindehautentzündung muss erst besorgt werden. Der Pförtner im Lager werde das Rezept einlösen, erklärt der Übersetzer dem Vater mit Kind an der Hand.

Eigentlich arbeitet der Mann, der seit 1999 in Deutschland lebt, als Paketbote. Nebenbei jobbt er als Dolmetscher für Serbisch und Albanisch, meist in Krankenhäusern und bei Ärzten, wie er erzählt. Im Foyer warten – zusammengestellt von einem Vermittlungsbüro – weitere Sprachkundige: für Afghanisch, Syrisch, Eritreisch, Arabisch. Der Arabisch-Übersetzer arbeitet gerade an einem Sonderauftrag: Er übersetzt einen Flyer, der Symptome verschiedener Infektionskrankheiten erklärt.

Die hessische Erstaufnahme kümmert sich derzeit um knapp 15.000 Asylsuchende an 20 Standorten, darunter viele Zeltstädte. „Mit unterschiedlichem Zeiteinsatz sind aktuell an den verschiedenen Standorten über 150 Ärzte tätig“, erklärt eine Sprecherin des Regierungspräsidiums. „Mehrere Hundert Patienten“ würden täglich behandelt oder begutachtet.

„Durch die zunehmende Anzahl der Flüchtlinge ist es durchaus möglich, dass im Bereich einiger spezieller Fachuntersuchungen geringe Verzögerungen auftreten“, gibt das Regierungspräsidium zu. Damit die Neuankömmlinge nicht so lange auf ihre Erstuntersuchung warten müssten, würden diese „zunehmend dezentral“ in den Außenstellen, in Kliniken, Röntgenpraxen und bei niedergelassenen Ärzten durchgeführt.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, schlug bereits Alarm: Angesichts der schieren Zahl der Neuankömmlinge sei „im Moment keine ausreichende ärztliche Versorgung gewährleistet“, sagte er kürzlich.

Der Verband der Kinder- und Jugendärzte beklagte ebenfalls „erhebliche Probleme“ bei der Gesundheitsversorgung der Flüchtlinge. Die Gesellschaft für Virologie warnte vor der kalten Jahreszeit: Durch die Flucht geschwächte Menschen, die auf engem Raum zusammen lebten, infizierten sich besonders leicht.

In Wetzlar häufen sich die Infektionen schon. Dazu kommen Krankheiten, die Flüchtlinge aus ihrer Heimat mitbringen, wie etwa Malaria. Probleme, die deutsche Mediziner selten sehen, wie Fadenwürmer unter der Haut. Verletzungen, die auf der Flucht entstanden sind: Schürfwunden, Prellungen, Schnittwunden. Probleme von Massenunterkünften wie Läuse.

„Man sieht ganz schlimmes Leid“, berichtet Knell. Eine junge Frau habe wegen der psychischen Belastung alle Haare verloren, und ihre Regelblutung blieb aus. Ein kleines Kind mit einer langen, grob zusammengeflickten Narbe auf dem Kopf sei völlig durchgedreht, als Knell ihm die Mütze vom Kopf nahm. Eine halbe Stunde habe sie gebraucht, das brüllende, um sich schlagende Kind zu beruhigen. Junge Syrer, „gebildete Männer aus wohlhabenden Familien“, weinten über die Zerstörung von Damaskus. „Manchmal muss ich mitweinen.“

Am Freitag hatten Flüchtlinge zwischen Lager-Eingang und Arztpraxis einen Sitzstreik organisiert. Kinder hielten Pappen hoch: „85 days in tent“ (85 Tage im Zelt) und „home no camp“ (ein Heim, kein Lager). Noch immer gilt für die Flüchtlinge in Wetzlar ein medizinisch begründeter Verlegungs-Stopp. Noch immer können sie nicht auf die Kommunen verteilt werden und vor dem Winter auf ein festes Dach über dem Kopf hoffen.

Auch wenn einige in den nächsten Wochen das Zeltlager in Mittelhessen verlassen: „Die Arbeit geht uns bestimmt nicht aus“, sagt Knell. Die Bundesregierung erwartet allein an diesem Wochenende in Deutschland 40.000 neue Flüchtlinge.

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