Zehntausende geistig behinderte Männer, Frauen und Kinder wurden von den Nazis ermordet. Gehirnpräparate von einigen Opfern lagern noch immer in der Sammlung des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München. Nun wird die Vergangenheit umfassend aufgearbeitet.
Die Türen sind versiegelt. Nur Forscher haben Zugang. Wer in die Archive des Max-Planck-Instituts in München steigt, trifft auf Schatten der Vergangenheit: Feinsäuberlich beschriftete und aufwendig präparierte Gehirnteile. Einige stammen noch immer von Euthanasie-Opfern der Nazi-Diktatur: Menschen, die wegen einer geistigen Beeinträchtigung als lebensunwert befunden und getötet wurden. Die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) ist seit 2015 nochmals dabei, diesen Teil der Vergangenheit umfassend aufzuarbeiten.
„Leider war die Aufarbeitung in der Nachkriegszeit und offenbar weit darüber hinaus geprägt von Verleugnung durch viele Verantwortliche und Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern“, sagt Martin Keck, Direktor der Klinik des MPI für Psychiatrie. Ziel sei es nun, den Opfern Identität und somit ein Stück ihrer Würde zurückzugeben.
Tausende mikroskopische Hirnschnitte lagern allein im MPI für Psychiatrie in München. Es sind hauchdünne Schnitte auf Glasträgern, teils auch in Formalin eingelegte Hirnteile in Gefäßen. Hirnschnitte, anhand derer etwa vor über 100 Jahren auch Alois Alzheimer seine Untersuchungen betrieb, spielen heute angesichts moderner Untersuchungsmethoden für die Forschung eine untergeordnete Rolle. Forscher haben sie in den vergangenen zwölf Monaten gesichtet.
„Wir haben Einzelfälle gefunden, in denen der Verdacht besteht, dass es sich um Euthanasie-Opfer handelt. Bei einigen Präparaten ist das bereits nachgewiesen“, sagt der Historiker Gerrit Hohendorf, der an Archiv-Begehungen teilnahm. Nun wollen die Wissenschaftler die Namen der Opfer herausfinden, ihre Schicksale beleuchten, um am Ende alle Überreste würdig bestatten zu können. Das dreijährige Projekt startet im Juni. Alle Fälle von Gehirnuntersuchungen in Max-Planck-Instituten, auch die bereits bestatteter Opfer, sollen neu aufgerollt werden, um zu klären: „Welche der betroffenen Menschen sind Euthanasieopfer oder Opfer von anderen NS-Unrechtstaten?“
Etwa 300.000 psychisch Kranke und geistig Behinderte wurden von den Nazis in Europa ermordet. Ein bis zwei Prozent könnten posthum als Forschungsobjekte missbraucht worden sein, schätzt Hohendorf. Das Vorgänger-Institut des MPI für Psychiatrie, die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie (DFA), spielte dabei eine unrühmliche Rolle. Einer der DFA-Direktoren, Ernst Rüdin, zudem Präsident der damaligen psychiatrischen Fachgesellschaft, arbeitete maßgeblich an der Ausgestaltung des Rassenhygiene-Gesetzes mit. Rüdin und andere DFA-Mitarbeiter waren an der Euthanasie beteiligt.
Teils „orderten“ Ärzte gezielt das Hirn eines Patienten, der ihnen interessant schien. Oder sie bekamen Menschen für ihre Versuche, anstelle von Versuchstieren. Hohendorf schließt nicht aus, dass unter den Präparaten auch einige von Opfern der Menschenversuche sind, etwa aus den Unterdruckkammern im KZ Dachau, in denen Verhältnisse bei Flügen simuliert wurden und in denen viele umkamen.
Allein im heutigen Isar-Amper-Klinikum München-Ost in Haar bei München starben im Rahmen des Euthanasieprogramms etwa 2000 Menschen, darunter 332 Kinder. Patienten kamen in Hungerhäusern um oder wurden mit Medikamenten-Überdosen ermordet. Dort befand sich die Pathologie der DFA, von wo aus Hirnschnitte im Archiv landeten.
Die NS-Medizin konterkarierte jedes ärztliche Ethos. Sie bot den Forschern Freiheit ohne Verantwortung für ihre Patienten. Auch Ärzteorganisationen und Fachgesellschaften sind fast 80 Jahre später noch mit der Aufarbeitung beschäftigt. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) etwa arbeitet sich seit Jahren durch das düstere Kapitel.
Nach einem ersten Part der Aufarbeitung der NS-Zeit will der Verband jetzt die Rolle der Psychiatrie nach dem Krieg angehen. „Gerade nach 1945 standen ja Verleugnung, falsches Standesdenken und massive Ausgrenzung von Kritikern im Vordergrund. Auch ein ganz schreckliches Kapitel unserer Geschichte“, sagt Frank Schneider, Ex-Präsident der DGPPN, der die Aufarbeitung vorantreibt. Die Funde am MPI in München machten ihn betroffen. „Ich bin sehr erschrocken, was nun nach und nach über das MPI herauskommt und finde es gut, wie offen und angemessen die jetzige Institutsleitung in München agiert.“
Das MPI für Hirnforschung in Frankfurt hatte vor fast 30 Jahren umfassend aufgeräumt: Alle Humanpräparate aus den Jahren 1933 bis 1945, die von Euthanasie-Opfern, Zwangsarbeitern, KZ-Häftlingen oder anderen NS-Opfern stammen konnten, wurden 1990 auf dem Münchner Waldfriedhof beigesetzt. Rund 100.000 Präparate waren es. Das MPI für Psychiatrie in München sortierte nur 30 Prozent seines Bestandes aus.
2015 tauchte in Berlin überraschend eine Kiste mit 100 Präparaten aus der Sammlung des Arztes Julius Hallervorden auf. In der NS-Zeit am Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin als Vorgänger des MPI für Hirnforschung Frankfurt beschäftigt, hatte er – wie andere – die Präparate von Opfern bis in die 1960er Jahre zur Forschung genutzt. Alarmiert durch den Fund der Kiste stiegen Wissenschaftler erneut in die Archive – und entdeckten die Objekte, die nun untersucht werden.
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