Masterplan Medizinstudium 2020: Erste Testprüfung in Neubukow dpa, 08.11.2019 15:11 Uhr
Das Medizinstudium gilt als stark verschult, Lernen geht über Multiple Choice und Patientenkontakte sind rar. Das soll sich mit dem Masterplan Medizinstudium 2020 ändern. Ärzte und Patienten sollen künftig partnerschaftlich und auf Augenhöhe miteinander umgehen.
„Blutdruck 150:100“, liest der 26 Jahre alte Medizinstudent Giuliano Bandiko an seinem Messgerät ab. Das löst bei seiner Patientin, der 76-jährigen Gerda Schmidt, eine ungläubige Reaktion aus: „Das stimmt bestimmt nicht.“ Ein Lächeln ist die Antwort – der Apparat lügt nicht. Schauplatz dieser Szene ist die Praxis für Allgemein- und Familienmedizin im kleinen Neubukow bei Rostock im Rahmen einer bundesweiten Premiere.
Bandiko ist der erste Testprüfling für die künftige Prüfung für Medizinstudenten in einer Hausarztpraxis im Rahmen des Masterplans Medizinstudium 2020. Die erste klinische Testprüfung war im Februar in Heidelberg. Unter den Augen von Praxischef Stefan Stutz und der Direktorin am Mainzer Institut für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen, Jana Jünger, untersucht der Rostocker Student seine Patientin.
Sieben Seiten umfasst das Protokoll. In der gut 45-minütigen Sitzung erfragt Bandiko ausführlich die durchaus umfangreiche medizinische Vorgeschichte der rüstigen Seniorin, das Familienleben und auch, wie sie den Tag so verbringt. Der praxiserfahrene Stutz hat für seinen künftigen Kollegen gleich noch einen Tipp, wo er während des Erklärens mit seinen Händen hin soll: „Er soll die Merkel-Raute machen.“
Für den zunächst aufgeregten Bandiko ist die Testprüfung nicht Teil seines Examens. Er sei aber für seinen bald anstehenden Abschluss gut vorbereitet, sagt Jünger. Denn die Prüfung nach der noch geltenden Studienordnung dauere 15 Minuten. Da werde in der Regel zwölf Minuten lang über den Patienten gesprochen, mit ihm drei. „Das ist der Kulturwandel“, betont Jünger. Hier müsse die Medizin der Zukunft ansetzen, ist Jünger überzeugt.
Neben der eigentlichen Therapie soll den Patienten geholfen werden, über Ernährung, Bewegung oder soziale Kontakte gesünder zu leben. Dann müssten sie weniger in die Praxis und der Arzt wiederum hat mehr Zeit für die wirklich kranken Patienten. Bislang sehe die Praxis so aus, dass es viele, aber kurze Kontakte gibt. „Neu ist, dass künftig viel mehr Zeit für die Patienten investiert wird“, erklärt Jünger die Neuordnung des Medizinstudiums, die dann auch im Laufe der Jahre in die Praxis übergehen wird.
Die persönliche Begegnung mit den Patienten wird schriftlich – auch für den Patienten verständlich – festgehalten. „Wichtig ist auch, dass der Arzt gleich an die anderen Berufsgruppen im Gesundungsprozess mitdenkt und sie damit wertschätzt“, betont Jünger. Auch der Umgang mit dem Ende des Lebens gehöre dazu, beispielsweise die Frage nach einer Patientenverfügung.
Mit Bandiko als deutschlandweit erstem Prüfling haben Jünger und ihre Kollegen eine glückliche Hand gehabt. Souverän und freundlich untersucht er Gerda Schmidt, erklärt dabei seine Handlungen und gibt positive Verstärkung bei Dingen, die Schmidt gut macht.
„Vermeidung von Defizit-Orientierung“, wie Jünger den Kulturwandel ausdrückt. Zwei Mal muss Jünger allerdings eingreifen. Nach der körperlichen Untersuchung sollte kein Patient unnötig lang ohne Bekleidung sein. Auch reiche nicht der Satz der Patientin, mit den Füßen sei alles in Ordnung. „Das soll er bitte selbst kontrollieren.“
Denn an den Füßen seien erste Anzeichen von Diabetes-Folgeschäden zu erkennen. Gerda Schmidt ist zufrieden, als sie von Untersuchungsliege aufsteht. „Na, das war ja eine umfassende Untersuchung heute.“ Wenn es nach Jünger geht, sollte das zur Regel werden.