Mit Wahnvorstellungen, Herzrasen und Krampfanfällen wälzen sich die Menschen im Tagungsraum auf dem Boden. Einige sind bereits bewusstlos, andere liegen auf dem Rasen vor dem Gebäude, bis zu 29 Menschenleben sind in Gefahr. Augenzeugen können kaum glauben, was sie sehen. Mehr als 160 Rettungskräfte eilen ins niedersächsische Handeloh, Notärzte kämpfen in der parkähnlichen Anlage südlich von Hamburg um das Überleben der Seminarteilnehmer, Unfallwagen bringen die Betroffenen in verschiedene Krankenhäuser der Region. Schnell wird klar: Ein Drogenexperiment soll es gewesen sein, möglicherweise sogar mit Sekten-Hintergrund.
Ein gutes Jahr später hat die Staatsanwaltschaft Stade ihre Ermittlungen beendet und Anklage erhoben. Sie wirft den beiden Organisatoren unter anderem Drogenbesitz vor, die beiden sollen in Handeloh die verbotene Psychodroge 2C-E verteilt haben. Beschuldigt werden eine 49-jährige Heilpraktikerin aus Aachen und ihr 51 Jahre alter Ehemann. Er ist Diplom-Psychologe und Psychotherapeut, wie Oberstaatsanwalt Kai Thomas Breas am Dienstag mitteilt. „Den Beschuldigten droht bei einer Verurteilung außer einer Haftstrafe auch ein Berufsverbot“, erklärt er.
Es soll um „persönliche Selbsterfahrung“ und die „Förderung der Bewusstseinsentwicklung“ im Rahmen einer sogenannten Psycholyse gegangen sein, sagt Breas. Die habe mit Psychotherapie und Medizin nichts zu tun, heißt es dazu bei der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Der Einsatz illegaler Drogen sei strafbar, zudem drohe Machtmissbrauch durch den Therapeuten.
„Nach den Ermittlungsergebnissen sind die Angeschuldigten Sympathisanten der sogenannten Kirschblütengemeinschaft“, sagt Breas weiter. Die Gemeinschaft des Schweizer Therapeuten Samuel Widmer wird von der Zentralstelle für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche als „problematisch“ eingestuft, Kritiker sprechen von einer Sekte.
Die Sprecherin der Kirschblütengemeinschaft möchte zu Handeloh nichts sagen. „Natürlich haben wir auch hier in der Schweiz von den Geschehnissen um die Heilpraktiker in Handeloh gehört“, heißt es auch nach über einem Jahr auf der Internet-Seite der Gemeinschaft. „Obwohl uns noch gar nicht bekannt ist, wer die betroffenen Personen in Handeloh sind, wird ein Schüler von Samuel Widmer darunter vermutet“. Und weiter: „Hier wird somit nicht nur versucht, eine Therapiemethode zu diskreditieren, sondern ein Rufmord an Menschen riskiert, die einfach anders leben wollen.“
Das Tagungszentrum in Handeloh hat mit dem Vorfall vom 4. September auch nach fester Überzeugung der Staatsanwaltschaft nichts zu tun. Sie habe kein Verständnis für Drogen, auch nicht zur Bewusstseinserweiterung, hat die Geschäftsführerin des Tagungszentrums wenige Tage nach dem Vorfall betont. „Das waren Heilpraktiker, Ärzte, Homöopathen und Psychologen“, hat sie damals gesagt, noch immer fassungslos. „Ich bin froh, dass alle überlebt haben.“
Die Organisatoren müssen sich nicht wegen Körperverletzung verantworten – die Anklage geht laut Breas von „eigenverantwortlicher Selbstgefährdung» aus. Die Ermittlungsverfahren gegen die übrigen 27 Seminarteilnehmer wurden nach und nach eingestellt. „Der bloße Konsum von Betäubungsmitteln ist straflos“, erklärt Breas.
Wann der Prozess am Landgericht Stade beginnt, steht nach Angaben einer Sprecherin noch nicht fest.
2(4-Ehyl-2,5-dimethoxyphenyl)ethanamin ist ein Aufputschmittel aus der Gruppe der Phenylethylamine, erklärte Professor Dr. Theo Dingermann, Seniorprofessor am Institut für Pharmazeutische Biologie an der Goethe-Universität Frankfurt kurz nach dem Vorfall. Die Gruppe 2C unterscheidet sich von anderen Substanzen durch ihre Substituenten. Diese machen die Stoffe zu besonders psychedelisch wirksamen Substanzen.
2C-E bindet 5-HT2A-Rezeptoren und löst so die psychedelischen Effekte aus. Gleichzeitig wirkt die Substanz als Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI). Dadurch hält die Wirkung sehr lange an – für acht bis zwölf Stunden. SSNRI werden üblicherweise bei Depressionen und Angststörungen eingesetzt. Wirkstoffe sind Venlafaxin, Duloxetin und Milnacipran. Die Substanzklasse der Amphetamine, zu der 2C-E gehört, sei früher in Appetitzüglern eingesetzt worden, erklärte Dingermann. Inzwischen würden die Substanzen aber nicht mehr eingesetzt, da hohe Nebenwirkungen aufgetreten seien.
Dass die Heilpraktiker bei ihrer Tagung auf der Suche nach medizinischen Anwendungen waren, konnte sich Dingermann nicht vorstellen. „Amphetamine sind therapeutisch ausgelutscht – aber nicht, was ihre illegale Nutzung angeht.“ Immer wieder würden Menschen die Stoffe „mit verrückter Chemie“ synthetisieren, um bestimmte Effekte zu erreichen. Als „gezielte Missbrauchsforschung“ bezeichnete Dingermann daher die Entwicklung von immer neuen Substanzen.
Warum Homöopathen, „die normalerweise mit null Substanz arbeiten“, einen hoch konzentrierten und hoch wirksamen Stoff eingenommen haben, war für Dingermann ein Rätsel. Mit einem Augenzwinkern liefert er einen möglichen Erklärungsansatz: 2C-E könne auch epileptische Anfälle auslösen, so Dingermann. Nach dem Simile-Prinzip der Homöopathie wird ein Arzneimittel so ausgewählt, dass es an Gesunden ähnliche Symptome hervorruft, an denen der Kranke leidet. Dass dies das Ziel der Heilpraktiker war, konnte sich Dingermann aber kaum vorstellen.
Die Wirkung von 2C-E sei sehr stark psychedelisch und halluzinogen. Die Konsumenten würden etwa Farben sehen oder körperliche Sensationen erleben. „Eine sehr bizarre Erfahrung“, so Dingermann. „Das Schlimme ist, wie häufig bei psychedelischen Drogen: Die Wirkung ist für den Einzelnen nicht vorhersehbar.“
Die Wirkung hängt auch von der Dosis ab. Üblicherweise werden 10 bis 25 mg der Substanz eingenommen, entweder oral – dann setzt die Wirkung laut Dingermann nach etwa einer Stunde ein – oder geschnupft. Das Schnupfen der Kristalle beschreiben Konsumenten als sehr schmerzhaft, die Wirkung tritt dann deutlich schneller ein.
Über die Wirkung verschiedener Dosen und das Abhängigkeitspotenzial ist laut Dingermann nur wenig bekannt. Er schätzt die Gefahr einer Abhängigkeit für nicht sehr hoch ein. „Man nimmt die Substanz nicht oft, sondern eher experimentell“, erklärt er. 2C-E wurde in den USA von dem Chemiker und Pharmakologen Alexander Shulgin synthetisiert.
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