„Man muss Masse und billig machen“ Silvia Meixner, 14.07.2018 09:35 Uhr
32 Jahre hat Anke Grabow in der Galenus-Apotheke in Berlin-Mitte gearbeitet, seit einigen Jahren vis-à-vis zum Bundesgesundheitsministerium. Weil sie zu DDR-Zeiten anfangs nicht studieren durfte, begann sie als Helferin. Nach dem Studium leitete sie die Apotheke. Sie hat alles erlebt, was eine Offizin zu bieten hat – und immer mehr auch Frustration. Nun hat sie aufgehört und startet in einem neuen Beruf durch.
„Apotheker ist ein Heilberuf, das kommt heutzutage immer weniger zum Tragen“, sagt die 51-Jährige. „Alle kämpfen ums Überleben. Man wird getrieben, möglichst viel und möglichst billige Arzneimittel abzugeben. Es ist doch absurd: Ich sage meinen Kunden zum Beispiel, dass ich heute Aspirin im Angebot habe. Nehmen Sie doch gleich zehn Packungen mit! Mein Schwerpunkt war immer Beratung, aber das ist mittlerweile nicht mehr finanzierbar. Man muss Masse und billig machen. Das will ich nicht und das kann ich nicht. Ich finde diese Entwicklung sehr bedenklich.“
Der Abschied von der geliebten Apotheke war ein jahrelanger Prozess. „Ich habe lange geguckt, wie ich das hinbekomme.“ Immer im Blick, dass die Gehälter für zehn Mitarbeiter hereinkommen müssen. Immer mit neuen Ideen im Portfolio. So eröffnete sie neben der Apotheke ein mittlerweile wieder geschlossenes Gesundheitszentrum und in den Räumen über der Offizin ein Kosmetikstudio.
Vor neun Jahren belebte sie eine gute alte Idee neu. In den 1920er-Jahren, als das Haus noch Kaiser-Friedrich-Apotheke hieß, betrieb der jüdische Apotheker Ernst Silten hier seine „Sauerstoff-Centrale für medizinische Zwecke“. Viele Schauspieler gehörten zu seinen Kunden, die Apotheke befindet sich in unmittelbarer Nähe von Friedrichstadt-Palast, Deutschem Theater und Berliner Ensemble. Das Sauerstoff-Konzept probierte Grabow ebenfalls aus, mittlerweile ist es wieder eingestellt. Siltens Leben endete tragisch, der Jude beging im Jahr 1943 Selbstmord, da er befürchtete, deportiert zu werden.
Das und viele Details mehr hat Apothekerin Grabow in einem Buch („Luft zum Atmen“) aufgeschrieben, das sie über „ihre“ Apotheke verfasst hat. Sie schildert darin die Geschichte des im Jahr 1888 gegründeten Unternehmens mit all seinen Höhen und Tiefen. Auch ihre Lebensgeschichte ist interessant. „Ich bin in der DDR groß geworden. Meine Mutter ist Apothekerin, Pharmazie hat mich immer interessiert. Ich wurde fürs Studium abgelehnt, es gab nur sehr wenige Pharmazieplätze für Studenten.“
Als wählte sie Plan B. „Ich habe als Apothekenhilfe angefangen.“ Nach der erfolgreichen Lehre versuchte sie ihr Glück neuerlich. „Es gab die Möglichkeit ‚Aus der Praxis delegiert‘ zu studieren.“ Sie bewarb sich und bekam einen Studienplatz. „Ich habe mein Studium im Jahr 1987 an der Humboldt-Uni in Berlin begonnen.“
Nach erfolgreichem Abschluss kehrte sie wieder in die Reinhardt-Straße in Berlin-Mitte zurück. Die Arbeitsumstände für Apotheker in der DDR beschreibt sie so: „Der Ansatz damals war, so wenig wie möglich Arzneimittel zu verkaufen.“ Aus einem einfachen Grund: Es gab nicht so viele Medikamente wie im Westen. „Zuerst hat man überlegt, wie der Patient mit Hausmitteln wieder gesund werden kann. Arzneimittel gab es nur im Notfall“, erzählt Grabow. Die Nachteile lagen naturgemäß darin, dass nicht alle Krankheiten geheilt werden konnten. „Krebs ist heute zum Beispiel besser zu behandeln, das ist eine Entwicklung, die natürlich zu begrüßen ist.“
Doch die Apothekerin sieht auch Vorteile der DDR-Zustände, die man sich angesichts der heutigen Lage der Pharmazeuten durchaus näher ansehen könnte. „Der Nichteinsatz von Arzneimitteln war eine Form der Sparmaßnahmen. Gleichzeitig hatte es den Vorteil, dass insgesamt weniger Produkte verkauft wurden.“ Einen Verkaufsdruck wie heute gab es in der DDR schlicht nicht. Ihr Fazit: „Die Menschen bräuchten heute eigentlich nur die Hälfte der Medikamente, die sie kaufen.“
Und Apotheker, PTA und PKA stünden im Idealfall nicht so unter Druck und könnten sich mehr auf die Beratung konzentrieren. Nach und nach hat dieser Druck Grabow mürbe gemacht. Und da sie auch eine Heilpraktikerin-Ausbildung absolviert hat, lag die Entscheidung nahe, sich auf diesem Gebiet selbstständig zu machen. Ihre Apotheke verkaufte sie an Christian Belgardt, den Präsidenten der Apothekerkammer Berlin.
„Im Februar fand die Übergabe statt“, erzählt Grabow. Am 1. Juni hat sie gemeinsam mit einer Badetherapeutin ihre neue Praxis über der Galenus-Apotheke eröffnet. Und für Herbst plant sie ein zweites berufliches Standbein: „Ich werde Apothekencoaching anbieten, das auf naturheilkundliche Beratung spezialisiert ist. Es geht darum, wie man diese Beratung in den Apothekenalltag integrieren kann. Ich habe das bereits ein paar Mal gemacht und jetzt ein Konzept verfasst, weil ich die Beratung ausbauen möchte.“
In ihrer Praxis bietet sie, begleitend zur Schulmedizin, Beratung für Patienten an. „Ich bin nicht für Entweder/Oder, sondern für Begleitung.“ Besonders Menschen mit chronischen Erkrankungen möchte sie mit anthroposophischen Ansätzen helfen.
„Sie werden oft nicht ernst genug genommen, werden mit Schmerzmitteln oder Cortison behandelt. Das ist wenig heilsam, ich möchte gucken, was es sonst noch gibt.“ Sie will mit ihrer Arbeit auch die Position der Patienten stärken. „Ich möchte, dass sie sich möglichst viele Therapieoptionen offen halten. Ich will sie ins Boot holen und dass sie erkennen, dass sie für ihre Heilung mitverantwortlich sind.“
Auch das könnte helfen, Medikamente und in der Folge Geld zu sparen – dem einzelnen und dem Gesundheitssystem. Und den Menschen zuhören: „Viele Patienten beklagen, dass ihnen nicht zugehört wird.“ Die Behandlungen erfolgen auf Privatzahler-Basis, wer nicht privat versichert ist oder eine Zusatzversicherung hat, bezahlt 70 Euro pro Beratungsstunde.