Asbest: Opfer müssen um Anerkennung kämpfen dpa, 31.07.2017 15:55 Uhr
Als er aus dem künstlichen Koma erwachte, war Boris Wrobel ein anderer Mensch. Einen Lungenflügel, Rippenfell und Teile des Zwerchfells und Herzbeutels hatten die Chirurgen entfernt. Nach der Operation und mehreren Tagen im Koma begann ein neues Leben für den heute 39-jährigen Mann aus Duisburg.
Drei Jahre ist die Untersuchung beim Lungenarzt her, der bei ihm Verwachsungen im Rippenfell feststellte, die dort nicht hingehörten. Eine Computertomographie beim Radiologen brachte die Diagnose, eine Biopsie dann die Bestätigung: Mesotheliom. Der bösartige Tumor kann am Rippenfell, Bauchfell oder Herzbeutel auftreten. Viele Betroffene sterben binnen eines Jahres, sagt Prof. Xaver Baur, Präsident der Europäischen Gesellschaft für Umwelt- und Arbeitsmedizin. Die Ursache für Mesotheliome ist in den meisten Fällen klar: Asbest.
Heute ist Asbest ein Schreckenswort. Lange aber galt der Stoff als Wundermittel: nicht brennbar, elastisch, kaum kaputt zu kriegen und dazu billig – Eigenschaften, die Asbest zu einem beliebten Baustoff machten.
Die verheerenden gesundheitlichen Gefahren waren dabei schon Jahrzehnte bekannt. Eingeatmete Asbestfasern setzen sich in der Lunge fest. Der Körper kann sie nicht abbauen. Die Fasern reizen das Gewebe und führen zu Vernarbungen: Asbestose lautet der Fachbegriff. 1993 erst wurde Asbest in Deutschland verboten.
Heinz-Peter Sattler war Elektriker im Schiffbau. „Die Hafenarbeiter standen bei neuen Lieferungen knietief in Asbestflocken“, erzählt er. Sattler war im Job jahrelang den gefährlichen Staubwolken ausgesetzt und leidet gesundheitlich unter den Auswirkungen. „Keiner hat gewusst, wie gefährlich das war.“ Er sah Kollegen krank werden – und sterben. Betroffen waren viele Branchen: Isolierer von Kraftwerkspumpen, Automechaniker in Werkstätten, die asbesthaltige Bremsbeläge ein- und ausbauten, oder Heizungsbauer.
Irgendwann in den Neunzigern müssen die Asbestfasern in die Lunge von Boris Wrobel gelangt sein, der keiner der beruflichen Risikogruppen angehört. Wahrscheinlich ist, dass ihm die Arbeit bei einer Tischlerei in seiner Jugend zum Verhängnis wurde: Ohne Schutzanzug oder auch nur Atemmaske schlug Wrobel Fenster aus Wänden heraus. In den Fensterdichtungen war Asbest verarbeitet worden. Damit sich ein Mesotheliom bildet, reichen unter Umständen bereits geringe Mengen. Asbestfasern verkapseln sich in der Lunge und verharren dann unbemerkt im Körper. Wrobel bemerkte über Jahre nichts.
Offiziell sind in der Bundesrepublik mehr als eine halbe Million Menschen erfasst, die beruflich mit Asbest zu tun hatten oder haben. Deren Dunkelziffer dürfte viermal so hoch sein, schätzt Sattler, der dem Bundesverband der Asbestose Selbsthilfegruppen vorsitzt.
„Es kann lange dauern, ehe jemand krank wird“, sagt Arbeitsmediziner Baur. Bis die Fasern in der Lunge die Gewebeschäden auslösen, können durchaus 40 Jahre vergehen. Der Körper könne die Belastung lange Zeit kompensieren, erklärt er.
Wer sicher weiß oder den Verdacht hat, Asbest eingeatmet zu haben, sollte sich regelmäßig untersuchen lassen, rät der Bundesverband der Asbestose Selbsthilfegruppen. Lungenfachärzte können Asbestose sowie mögliche Folgeerkrankungen erkennen. Als Mittel stehen den Medizinern Röntgen, Computertomographie, Blutuntersuchungen und Lungentests zur Verfügung. Die Vorsorge wird von der Zentralen Erfassungsstelle für asbeststaubexponierte Arbeitnehmer (GVS) organisiert.
Laut der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) wurden 2015 knapp 10.000 neue Verdachtsfälle für Asbesterkrankungen gezählt. Die Zahlen sind seit Jahren auf diesem Niveau, zeigt die Statistik. Ein Rückgang ist nicht abzusehen. Mehr als 1500 Menschen sind 2015 nach Zahlen der DGUV an Asbesterkrankungen gestorben.
Asbesterkrankungen müssen der zuständigen Berufsgenossenschaft gemeldet werden. Diese muss die Ursache ermitteln und entscheidet über die Anerkennung – verbunden mit der Möglichkeit auf eine Rente und Kostenunterstützung bei Therapien und Medikamenten.
Boris Wrobel bekam Besuch von zwei Genossenschaftsmitarbeiterinnen. Es war während der ersten Chemotherapie. Sie stellten Fragen, Wrobel antwortete. Die Bedeutung von alldem war ihm nicht bewusst. „In der Zeit hatte ich viele andere Dinge im Kopf.“ Monate später war Post im Briefkasten: Die Berufsgenossenschaft konnte keine Berufskrankheit feststellen.
In der Befragung wird ein Anamnesebogen ausgefüllt. Er klärt vor allem, wo und mit was man in seinem Leben gearbeitet hat. Den Bogen unvollständig ausfüllen, sei der größte Fehler, sagt Uschi Fleischer, Vorsitzende der Asbestose-Selbsthilfegruppen Nordrhein-Westfalen, die auch Wrobel unterstützt. Außerdem sollte man bei dem Termin mit der Berufsgenossenschaft immer eine Vertrauensperson hinzuziehen.
Boris Wrobel musste nach sechs Wochen Krankheit fast ein Jahr lang mit dem Krankengeld der Kasse auskommen – und für Medikamente sowie Krankenhausaufenthalte dazuzahlen. Es sei ziemlich knapp gewesen mit dem Geld in dieser Zeit, sagt er. Im Sommer hat er das Anerkennungsverfahren erneut ins Rollen gebracht. Vor allem ging es um eine Antwort auf die noch ungeklärte Frage: Wo gab es den fatalen Asbest-Kontakt?
Ende Juni 2017 dann die ersehnte Nachricht: Wrobels Leiden wird als Berufskrankheit anerkannt. Das heißt unter anderem, dass Wrobel nun einen Rentenanspruch hat. Dass er Kosten rückwirkend geltend machen kann, für den Heilpraktiker, für Zuzahlungen zu Medikamenten und Krankenhaustagegeld. „Es ist eine große Erleichterung.“
Ganz losgelassen hat ihn das Mesotheliom aber nicht. Im Frühjahr vergangenen Jahres schmerzte Wrobels Bauch. Mediziner fanden dort verdächtige Stellen – aber keine Tumore. Solange die nicht sichtbar sind, bleibt nur die Beobachtung.