Körperspender: Wenn der Tod dem Leben dient dpa, 12.07.2016 16:49 Uhr
Was passiert mit dem Körper, wenn ein Mensch gestorben ist? Sargbegräbnis, Urnenbeisetzung oder eine Seebestattung? Karl-Heinz Kühne hat einen anderen Weg gewählt. Vor seinem Tod vermachte der Ingenieur seinen Körper der Wissenschaft. Greifswalder Medizinstudenten lernen an seinem Leichnam und denen anderer Toter die Anatomie des Menschen kennen, sie öffnen den Brustkorb, verfolgen den Verlauf von Blutgefäßen und Nervensträngen, entnehmen und sezieren Organe.
Das mag befremdlich wirken auf all jene, die sich zu Lebzeiten für eine Bestattung entscheiden. Befremdlich der Gedanke, als Toter in einem Präparierkurs auf dem Seziertisch zu liegen, wo es an Intimität fehlt und stattdessen helles Neonlicht und die Augen fremder Menschen auf den nackten Körper gerichtet sind.
„Tot ist tot“, sagt Gudrun Oestreich, die Frau von Karl-Heinz Kühne. Sie vermisst ihren Mann beim Aufstehen und Zubettgehen. In jeder Minute so unendlich, dass es ihr fast das Herz zerreißt. Sie kann noch immer nachts nicht schlafen, weil er ihr fehlt. Doch zum toten Körper, der mal ihr Mann gewesen ist, hat sie ein nüchternes Verhältnis. „Ist es besser, wenn Mäuse an dem Leichnam nagen oder Flammen den Körper verbrennen?“, antwortet sie all denen, die die Entscheidung, Körperspender zu sein, nicht verstehen können.
Im Februar 2011 entschieden sich Karl-Heinz Kühne und seine Frau Gudrun Oestreich, ihre Körper nach dem Tod dem Anatomischen Institut der Universität Greifswald zur Ausbildung und Forschung zu hinterlassen. Die Entscheidung war wohlüberlegt. „Wir hatten den Gedanken, dass wir den Nachmenschen helfen, wenn wir unseren Körper spenden“, erläutert die 80-Jährige die gemeinsamen Beweggründe. Zudem gebe es keine Hinterbliebenen, die ein Grab pflegen könnten. Gudrun und Karl-Heinz besuchten eine Trauerfeier, die jeweils zu Semesterende von Medizinstudenten für die Körperspender gestaltet wird. Die Atmosphäre, die Ernsthaftigkeit der Studierenden, haben sie beeindruckt. „Es war eine ehrliche, würdevolle Feier.“ Einen Monat später beschlossen sie, ihren Körper zu spenden.
Im Mai 2015 starb Karl-Heinz Kühne an Pankreaskrebs. „Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen“, lautet ein Spruch, den seine Frau nach dem Tod neben vielen gemeinsamen Bildern an eine Zimmerwand ihrer Wohnung geheftet hat.
Die Medizinausbildung ist ohne die praktische Ausbildung am menschlichen Körper undenkbar. An nahezu allen Medizinischen Fakultäten in Deutschland gehören Kurse im Präpariersaal zum Grundwerkzeug für angehende Ärzte. „Anatomie muss man begreifen“, sagt der Direktor des Instituts für Anatomie und Zellbiologie der Universität Heidelberg, Professor Dr. Joachim Kirsch. „Das Studium an den Körpern ist Lernen mit allen Sinnen.“ Die Studierenden lernen durch Tasten, sie lernen durch Hineinfassen, durch Begreifen. „Das kann keine virtuelle Anatomie leisten.“ Sein Greifswalder Amtskollege, Professor Karlhans Endlich, sagt: „Der Kurs ist mit Emotionen verbunden und alles was mit Emotionen verbunden ist, steigert den Lerneffekt.“
Für die meisten Studierenden ist der Anatomiekurs die erste Begegnung mit dem Tod. Selten sterben die Menschen zu Hause so wie Karl-Heinz Kühne. Im nüchternen Neonlicht des Präparationstisches wird das Schicksal des Menschen ausgeblendet. Die Studierenden kennen weder den Namen des Toten noch dessen Alter. Die Leidensgeschichte des Menschen erfahren sie, wenn sie die Organe „lesen“.
Doch wie geht ein junger Mensch mit dieser Situation um? „Es hilft, sich in die Strukturen des Körpers zu vertiefen“, erzählt der 19-jährige Student Lukas Müller, der im Präparationssaal die erste Leiche seines Lebens sah. „Am Präparationstisch denkt man weniger über den Tod als über das Sterben nach“, ergänzt der 22-jährige Zahnmedizin-Student Mike Rudolf Edelmann. Gegenüber den Vermächtnisgebern verspüre man Respekt und Dankbarkeit. Viele Anatomische Institute wie in Tübingen, Gießen, Rostock, Bonn, Heidelberg, Jena oder Greifswald organisieren Trauerfeiern, in denen die Studierenden den Körperspendern danken.
Dem Anatomiekurs zu Beginn des Medizinstudiums haftet – befeuert durch spannende Krimis und Romane – noch immer der Geruch eines Initiationsritus an, nach dem Motto: „Hast du diese schwere Prüfung bestanden, kannst du Mediziner werden.“ Kirsch gibt seinen Studierenden, die im Vorklinikum im ersten und zweiten Semester noch sehr jung sind, etwas anderes auf den Weg. „Der Körperspender, der vor euch auf dem Tisch liegt, ist euer erster Patient.“ An dem Umgang mit ihm präge sich das spätere Arzt-Patient-Verhältnis und das richtige Maß von Empathie und rationaler Professionalität.
Im Präpariersaal der Anatomie in Greifswald, wo sich Lukas Müller und Mike Rudolf Edelmann gemeinsam mit sieben weiteren Kommilitonen über eine von neun Leichen beugen, ist es nicht ehrfürchtig still. „Diese leise Stimmung haben wir nur während der ersten Kurse“, sagt Präparatorin Arlette Deutsch. Die Berührungsängste weichen mit der Beschäftigung am Körper schnell der Faszination für das, was man bisher nur aus dem Anatomiebuch kannte. Die Studenten diskutieren – ähnlich wie auf dem Rembrandt-Gemälde „Die Anatomie des Dr. Tulp“ – an den Präparationstischen angeregt, was sie dort betrachten und in die Hand nehmen können. „Ich sehe die Organe in einer Dreidimensionalität, die ein Buch nicht liefern kann“, sagt Edelmann.
3D-Computeranimationen und Kunststoffmodelle können die Arbeit am Körper nicht ersetzen, sind die Studierenden und auch deren Professoren überzeugt. „Wollen Sie später von einem Arzt operiert werden, der den menschlichen Körper nur aus Büchern und von Modellen kennt“, fragt Endlich. Dennoch hat in einigen Präpariersälen auch die virtuelle Anatomie Einzug gehalten. In Heidelberg wird beispielsweise von jedem Körperspender ein Ganzkörper-CT gemacht, welches im Präpariersaal hängt und an dem Studenten vergleichen können. „Das ist eine Heidelberger Spezialität, dass direkte Anschauung und Bildgebung miteinander gekoppelt werden“, sagt Kirsch.
Die Bereitschaft zu Körperspenden ist in Deutschland größer als die Nachfrage in den Anatomischen Instituten. „Wir mussten deshalb den Radius für Vermächtnisgeber auf 20 Kilometer um Greifswald einschränken“, sagt Endlich. Auch andere Institute in Deutschland verfahren so und haben den Einzugsradius begrenzt oder zeitweise – wie Jena seit 2007 – keine neuen Körperspenden-Vereinbarungen abgeschlossen.
Im Jahr 2004 fiel das Sterbegeld der gesetzlichen Krankenkassen als Zuschuss zu den Bestattungskosten weg. Viele Anatomische Institute – wie in Greifswald – erheben seitdem eine Aufwandsentschädigung, um Unkosten zu begleichen, die mit der Erstellung des Totenscheins, dem Transport und der Beisetzung entstehen. Sie kann je nach Institut zwischen 500 und 1200 Euro liegen und ist damit aber noch immer deutlich niedriger als die Bestattungskosten von rund 6000 Euro. Dennoch ist aus Sicht der Mediziner der Wunsch nach einer „billigen Beerdigung“ nicht die Hauptmotivation für Körperspender. Die Gründe seinen Körper der Wissenschaft zu vermachen, seien multifaktoriell, sagt Anatomieprofessor Endlich.
Einer Umfrage unter Körperspendern an der Uni Ulm Anfang der 2000er Jahre zufolge gaben rund 80 Prozent altruistische Gründe an. „Der überwiegende Teil will der Wissenschaft helfen, vielleicht weil man selber krank war oder im Familienkreis eine Leidensgeschichte miterlebt hat“, erklärt sein Kollege Kirsch. Zu 15 Prozent gaben Körperspender an, dass man – ohne Angehörige finanziell und organisatorisch zu belasten – unter die Erde kommen wolle. Ein kleiner Prozentsatz wolle mit seiner Körperspende, dass seine Leiche vernichtet werde, sagt Kirsch. Doch etwas bleibt: Erinnerungen der Angehörigen – wenn es sie gibt. Dankbarkeit der Studenten. Und auch die sterblichen Überreste des Körperspenders.
„Spuren im Sand verwehen, Spuren im Herzen bleiben“ – unter dieses Motto haben die Greifswalder Studierenden ihre diesjährige Trauerfeier für die Körperspender gestellt. Gudrun Oestreich sitzt an diesem Sommermorgen in der ersten Reihe des Doms, um Abschied von ihrem Karl-Heinz zu nehmen. Über ein Jahr hat sie darauf gewartet; bei einigen anderen Anwesenden hat es sogar zwei bis drei Jahre gedauert bis sie Abschied nehmen konnten. Ein evangelischer und ein katholischer Pfarrer geben in der Kirche mit Worten Trost. Der Studentenchor singt. Kerzen werden entzündet und die Namen der Körperspender verlesen. „Wir als Studenten kannten Ihre Angehörigen nicht“, sagt Medizinstudent Lennart Achmus in seiner Gedenkrede. „Sie schenkten ein Teil von sich, der für uns von unschätzbarem Wert ist.“
Gudrun Oestreich wischt sich Tränen aus dem Gesicht. Seine letzte Ruhestätte hat Karl-Heinz Kühne auf dem Urnenfeld des Anatomischen Instituts auf dem Alten Friedhof in Greifswald gefunden. Auf dem Gedenkstein steht „Der Tod dient dem Leben.“ Ganz im Sinne der Beiden.