Kneipe zu? Dann ab in die Offizin! Silvia Meixner, 26.12.2018 09:37 Uhr
Den Kirchenschlüssel? Gibt‘s gleich nebenan in der Apotheke, wenn der Pastor unterwegs ist. Das war in Wesselburen in Schleswig-Holstein schon immer so. Und wenn er am Sonntagnachmittag das Haus verlässt, hinterlässt der Apotheker einen Zettel an der Tür, wann er voraussichtlich wiederkommt. Dr. Carl Gerhard Spilcke-Liss betreibt in dritter Generation die Dithmarscher Apotheke Am Markt. Er liebt seine Landapotheke, die gerade 200. Geburtstag gefeiert hat.
Apotheke, immer nur Apotheke. Spilcke-Liss kennt nur Offizin. 24 Stunden am Tag, von klein auf. Andere würde das vielleicht verschrecken. Und dann noch in einem 3300 Einwohner-Ort im Kreis Dithmarschen, wo jeder jeden kennt. „Die Phasen, dass ich weg und nie wiederkommen will, habe ich überwunden“, erzählt er lächelnd. Weil er die Offizin quasi im Blut hat.
Und so kehrte er nach dem Pharmaziestudium in Halle an der Saale gerne in den Norden zurück. Die Eltern, beide Apotheker, warteten da schon ein wenig ungeduldig. Sie waren 65 und wollten endlich in den verdienten Ruhestand. Der sich allerdings relativierte, denn wenn Not am Mann ist, stehen sie heute, mit 77 Jahren, nach wie vor in der Offizin. Einmal Apotheker, immer Apotheker.
Aus purem Interesse hängte der Sohn, bevor er nach Hause zurückkehrte, noch Chemiegeschichte ran. Reine Vorsichtsmaßnahme. „Ich hab‘ immer gern einen Plan B. Das Studium half mir zu verstehen, was Wissenschaft ist und wie die Welt funktioniert.“ Und quasi als Wanderjahre absolvierte er als Vertretungsapotheker noch eine gründliche berufliche Rundreise durchs Land. Er arbeitete in zweieinhalb Jahren in 18 Apotheken in acht Bundesländern. „Danach wusste ich, dass eine Center-Apotheke schon mal hundert Packungen Aspirin am Tag verkauft und wie sehr sich Mütter über eine Apotheke mit Parkplätzen freuen.“
In den vergangenen Jahren hat seine Offizin einen kleinen Wandel durchlebt. „Viele Kunden sagen, früher hatten wir die Kneipe, jetzt gehen wir in die Apotheke. In den Dörfern rund um Wesselburen haben die Kneipen nach und nach geschlossen.“ Trifft man sich zum Schnacken eben in der Apotheke am Markt. Die Offizin als Seelenkitt. „Manche erzählen einander dann, dass sie sich früher beim Tanztee ja gut kannten...“ Und schon hat man ein Gesprächsthema. Vielleicht sogar einen kleinen Flirt. Deswegen Tee oder Kaffee auszuschenken, hielte der Apotheker dann aber doch für übertrieben. „Dafür haben wir gar keinen Platz. Kaffee haben wir leider nicht im Angebot. Aber wir versuchen, eine fröhliche Stimmung zu schaffen.“
Er erzählt: „Ich lebe in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin.“ Natürlich ist da auch die Apotheke drin. In Wesselburen wohnen Apotheker seit 200 Jahren im selben Haus. Nur eines hat der 39-Jährige bei Geschäftsübernahme im Jahr 2008 geändert. „Vorher gab es nicht einmal eine Privatnummer, wir hatten eine für Apotheke und privat.“ Jetzt hat er eine private Telefonnummer, ist aber im Notfall natürlich immer für seine Kunden da. Er betreibt in Lunden auch die Königlich Privilegierte Apotheke Lunden, hat 20 Mitarbeiter und kommt übers Jahr auf 46 Notdienste.
Zwölf Kilometer sind es nach Büsum, 25 nach St. Peter-Ording und auch nach Wesselburen kommen viele Touristen. Die Kollegen schicken im Notfall die Patienten zur Apotheke am Markt. Weil sie wissen, dass man hier Vieles auf Lager hat. Das gehört zum Grundverständnis des Apothekers: „Wir sind stark im Lager“, sagt er. Eine Präventivmaßnahme, denn wer weiß, dass seine Apotheke fast immer alles da hat, bestellt nicht im Internet. „Wir sind hier der Platzhirsch“, verkündet er selbstbewusst. Es gibt seit 30 Jahren noch eine zweite Apotheke im Ort, aber er sieht es gelassen. Bei 75 Prozent Stammkunden macht er wohl viel richtig.
Während viele Landapotheker Sorgen plagen, wenn zum Beispiel der Arzt seine Praxis schließt, blickt Spilcke-Liss frohgemut in die Zukunft. Vielleicht hat so eine Familienapotheke den Vorteil, dass man gelernt hat, dass es immer irgendwie weitergeht. Sorgen kommen und gehen. Zufriedene Phasen auch. „Mein Großvater hat die Apotheke am 1. Oktober 1950 übernommen, mein Vater am 1. Oktober 1968. Nach genau 40 Jahren hat er das Unternehmen an mich weitergegeben“, erzählt Spilcke-Liss.
Von Hiobsbotschaften der Branche lässt er sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen: „Als mein Vater übernahm, haben ihn schon viele gewarnt, dass so eine Apotheke unsicher wäre. Und dass es mit der Branche bergab geht.“ Und dann noch die vielen Vorschriften.
„Selbständigkeit ist immer ein Risiko, in jeder Branche“, sagt der zweifache Vater gelassen. Weiß er doch: „Ich habe meinen Traumberuf, lebe und liebe ihn.“ Dafür nimmt er die vielen Notdienste eben in Kauf. Bieten sie doch auch Gelegenheit, das Lager zu kontrollieren und aufzufüllen. „Wir sind permanent damit beschäftigt, das Lager zu optimieren.“
Denn die Kunden sind anspruchsvoll. „Die Menschen, die hier leben, leben nicht hinter dem Mond. Man muss auch auf dem Land immer up to date sein.“ Er hat gelernt: „Vernetzt zu sein ist das A und O auf dem Land.“ Er ist Kassenwart im Gewerbeverein, betreibt einen Stand auf dem Frühlingsmarkt („Da verkauft man nichts, ist einfach da“), geht auf Ausbildungsmessen.
Und auch der Tod wird auf dem Land anders erlebt als in großen Städten. Spilcke-Liss ist Teil eines Palliativnetzwerks: „Wir ermöglichen Menschen, zu Hause zu sterben.“ Seine Aufgabe ist es, in enger Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Arzt dabei die Schmerzen zu lindern. Kürzlich hat er eine Schulkollegin auf ihrem letzten Weg begleitet.
Den Tod nicht anonym abzuschieben, sei ein Vorteil des Landlebens. Damit die Patienten nicht leiden, bringt der Apotheker die Medikamente auch persönlich vorbei, wenn es schnell gehen muss. „Das kostet viel Zeit, ist aber unsere Stärke“, erklärt er.