Fast überall auf der Welt ist die Kinderlähmung ausgerottet – nicht aber in Pakistan. Die Gründe sind vielschichtig, vor allem Islamisten machen den Impfteams die Arbeit schwer. Aber es gibt Fortschritte.
Vor einem Jahr brachte Mohamed Rasools Frau Zwillinge zur Welt – einen Jungen und ein Mädchen. Der stolze Vater war überglücklich und feierte in seinem Dorf im Nordwesten Pakistans mit Freunden und Bekannten. Die Tochter nannte er Kainat, was in der Landessprache Urdu soviel bedeutet wie Universum. Aber Rasools Universum sollte wenig später zusammenfallen: Erst starb plötzlich der Sohn – und jetzt wurde bei Kainat Kinderlähmung diagnostiziert.
Pakistan hat mit Abstand die meisten Neuerkrankten weltweit und ist neben Afghanistan eines der wenigen Länder, in dem es noch neue Polio-Fälle gibt. Manchmal könne er seine kleine Tochter kaum anschauen, sagt Rasool. „Es tut so weh, wenn ich mir vorstelle, dass sie nie gehen und nie wie andere Kinder spielen wird.“
Am Mittwoch, dem 28. Oktober, begehen die Vereinten Nationen den Welt-Polio-Tag. Das Datum wurde zu Ehren des amerikanischen Bakteriologen Jonas Salk gewählt, dem Entwickler des Polio-Impfstoffs – es ist sein Geburtstag. 1998 hatten das Kinderhilfswerk Unicef und die Weltgesundheitsorganisation WHO den Gedenktag erstmals ausgerufen. Die Organisationen mahnen, dass ohne Impfschutz die Infektionen wieder zunehmen könnten. Seither wurden massive Fortschritte im Kampf gegen das Virus gemacht, aber für diejenigen, deren Kinder noch heute an der Seuche erkranken, ist das kaum ein Trost.
Das größte Problem in Kainats Heimatregion war ein jahrelanges, von den Taliban und anderen islamistischen Milizen auferlegtes Impfverbot. Die Extremisten argumentierten, Polio-Impfungen seien Teil einer Verschwörung des Westens, die darauf abziele, die Muslime auszuspionieren und sie unfruchtbar zu machen.
Die Tötung von Al-Kaida-Chef Osama bin Laden im Jahr 2011 sahen sie als Bestätigung für ihre Mutmaßung. Ein pakistanischer Arzt soll den amerikanischen Streitkräften im Rahmen einer vorgetäuschten Impfkampagne geholfen haben, an DNA-Proben der Familie zu kommen. Der Mediziner Shakeel Afridi war deshalb im Mai 2012 zu über 30 Jahren Haft verurteilt worden, obwohl er beteuert hatte, er habe den genannten Zweck der Impfaktion nicht gekannt.
Überhaupt lebten Gesundheitsarbeiter in Pakistan seit Jahren gefährlich. Immer wieder kam es zu Taliban-Attacken auf Impfteams, Dutzende Mitarbeiter und Sicherheitskräfte, die sie beschützen sollten, starben. „Aber jetzt ist die Sicherheitslage deutlich besser, vor allem seit dem Beginn der Zarb-e-Azb-Militäroffensive durch die pakistanische Armee im vergangenen Jahr“, erklärt Ayesha Raza Farooq. Die Politikerin führt die Bemühungen der Regierung um eine Ausmerzung der Kinderlähmung in Pakistan an.
Besonders in der extrem von Polio betroffenen Region Waziristan im Nordwesten, einem Rückzugsgebiet der afghanischen Taliban, seien nun auch kleine Dörfer wieder zugänglich, so Farooq. Zudem hätten die meisten Eltern mittlerweile verstanden, dass es sich bei den Impfverboten um reine Propaganda der Islamisten gehandelt habe: Die Zahl der ungeimpften Kinder sei dadurch von einer halben Million 2014 auf 38.000 gesunken. Das Ergebnis: Die landesweiten Neuerkrankungen gingen von 209 in der Zeit von Januar bis 21. Oktober 2014 auf rund 40 im gleichen Zeitraum dieses Jahres zurück.
Poliomyelitis ist eine hoch ansteckende Virus-Erkrankung, die tödlich verlaufen kann. Das Polio-Virus wird hauptsächlich durch Fäkalien von Mensch zu Mensch übertragen. Nach Angaben der WHO trifft die Infektion vor allem Kinder unter fünf Jahren. Eine von 200 Infektionen führe zu dauerhaften Lähmungen. Von diesen Erkrankten sterben 5 bis 10 Prozent, weil die Atemmuskeln betroffen sind. Eine spezielle Therapie gegen das Virus gibt es nicht.
1988 startete die WHO ein globales Impfprogramm zur Ausrottung der Kinderlähmung bis 2018. Maßgeblich finanziert ist es von der Bill & Melinda Gates Stiftung, der Organisation Rotary International und einzelnen Staaten. Die Zahl der Fälle sank seither von etwa 350.000 um rund 99,9 Prozent auf 359 im Jahr 2014. Deutschland verzeichnete 1992 die letzten beiden importierten Fälle.
Das Poliovirus ist nach WHO-Angaben nur noch in den beiden Ländern Afghanistan und Pakistan stärker verbreitet. Von den Fällen 2014 entfielen 306 auf Pakistan, 28 auf Afghanistan und der Rest auf sieben andere Länder. Im laufenden Jahr 2015 nahmen laut WHO die Erkrankungen in Pakistan im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 80 Prozent ab. Weltweit wurden 2015 bislang 51 Fälle offiziell registriert, wie das Kinderhilfswerk Unicef mitteilte.
Der Kampf geht weiter – nicht nur gegen das Virus, sondern in Pakistan auch gegen von Islamisten geschürte Ängste und blutige Attacken auf Impfteams. „Lasst um Himmels willen Eure Kinder impfen, rettet sie vor diesem Leiden“, sagt Rasool. „Sonst wird Euer Universum genauso zerstört werden wie meins.“
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