Spritzen setzen, Blut abnehmen, Medikamente verabreichen – und all das gegen den Willen der Betroffenen. Das ist manchmal nötig – und als Ultima Ratio auch rechtlich erlaubt. Dabei geht es um Menschen, die etwa aufgrund einer psychischen Krankheit, einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit einer Behandlung nicht erkennen und danach handeln können. Das können zum Beispiel Demente sein.
Nach geltender Rechtslage dürfen ärztliche Zwangsmaßnahmen nur in Krankenhäusern durchgeführt werden, nicht aber in spezialisierten ambulanten Zentren, in Pflegeheimen oder im häuslichen Umfeld. Das gilt auch, wenn Betroffene durch den Transport ins Krankenhaus gesundheitlich beeinträchtigt werden. Ob das mit dem Grundgesetz vereinbar ist, prüft nun das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
Im konkreten Fall erlitt eine Frau aus Nordrhein-Westfalen, die laut Bundesgerichtshof (BGH) unter anderem an paranoider Schizophrenie erkrankt ist, Retraumatisierungen. Sie habe für manche Transporte in die Klinik fixiert werden müssen. Ihr Betreuer beantragte, der Patientin ein Medikament auf der Station des Wohnverbundes zu verabreichen, in dem sie lebte.
Gerichte lehnten das ab, so dass der Fall beim BGH landete. Dieser hält die Rechtslage für unvereinbar mit der Schutzpflicht des Staates vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit – und schaltete das Verfassungsgericht ein.
Gerichtspräsident Stephan Harbarth sagte zu Beginn der Verhandlung, das Thema betreffe einen der „grundrechtssensibelsten Bereiche des Erwachsenenschutzes“. Einerseits müsse ein angemessener Schutz der Betreuten sichergestellt sein, andererseits dürfe aber nicht unverhältnismäßig in ihre Freiheitsrechte eingegriffen werden. „In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die gesetzgeberische Entscheidung, an welchem Ort – oder an welchen Orten – ärztliche Zwangsmaßnahmen durchgeführt werden können.“ Ein Urteil des Ersten Senats wird erst in einigen Monaten erwartet.
Professor Dr. Thomas Pollmächer von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde machte deutlich, dass ein Transport ins Krankenhaus eine erhebliche Belastung für die Betroffenen bedeuten könne. Allein die Fahrt dauere manchmal 20 bis 30 Minuten, die der Patient in der Regel bewusst mitbekomme.
Bei Fixierungen könnten Menschen verletzt werden. Das könne bei einem Transport schwerer sein als bei einer kurzfristigen Fixierung etwa zur Medikamentengabe zu Hause. Im Einzelfall könnten die Einsätze gravierende körperliche oder psychische Folgen haben, sagte er. Lebe jemand beispielsweise in der Vorstellung, gefoltert zu werden, könne dies verstärkt werden.
Die Bundesregierung will die bestehende Regelung beibehalten, machte Ministerialdirektorin Ruth Schröder aus dem Bundesjustizministerium deutlich. Es sei nicht möglich, Ausnahmen im Gesetz allgemein zu regeln, ohne dass Tür und Tor für Zwangsmaßnahmen geöffnet würden. Ein kleines Loch in der Schutzmauer könnte einen Dammbruch auslösen. Gerade in das private Umfeld der Menschen sollten Zwangsmaßnahmen aber nicht eingreifen. Auch könnten in Krankenhäusern multiprofessionelle Teams ihre Expertise einbringen.
Diese Position unterstützen auch Fachleute etwa des Deutschen Richterbunds und der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen. Hingegen sprach sich Kay Lütgens vom Bundesverband der Berufsbetreuer*innen für Ausnahmen für Einzelfälle aus. „Genaue Zahlen kann ich nicht dazu nennen.“
Unter anderem Ulrich Langenberg von der Bundesärztekammer machte deutlich, wie individuell unterschiedlich sich Behandlungsorte und -maßnahmen auf Betroffene auswirken können. Belaste es den einen, wenn in den eigenen vier Wänden Zwang gegen ihn ausgeübt wird, werde ein anderer traumatisiert, wenn aus dem vertrauten Umfeld gerissen wird.
Auch griffen stationäre und ambulante Versorgung ineinander, sagte Langenberg. Es sei nicht so, dass eine gute Versorgung nur in Kliniken möglich sei. Der Bevollmächtigte der Bundesregierung, Volker Lipp, machte in der Diskussion um Alternativen am Beispiel von Vorsorgevollmachten deutlich, dass Menschen in der Regel bestimmte Behandlungen ausschließen würden und nicht bestimmte Behandlungsorte wie Krankenhäuser.
Grundsätzlich gilt, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen gegen den Willen Betroffener nur das letzte Mittel sein dürfen. Davor gibt es ein mehrstufiges Prüfverfahren. Der Gesetzgeber kam so einer Entscheidung des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2016 nach, dass der Staat nicht einwilligungsfähige Betreute nicht sich selbst überlassen darf. Deutlich wurde in der Verhandlung, dass Daten etwa zu Auffälligkeiten bei Zwangsbehandlungen fehlen und selbst Fachbetreuer häufig für die spezielle Problematik nicht geschult sind.
Das Thema betrifft grundsätzlich eine größere Zahl an Menschen, wenngleich nicht alle durch zwangsweise Transporte traumatisiert werden. Der BGH verweist in seinem Beschluss auf die damalige Begründung des Gesetzentwurfs. Demnach sind psychisch Erkrankte, bei denen eine sogenannte Depotmedikation mit Neuroleptika in regelmäßigen Abständen wiederholt werden soll und bei denen aus medizinischer Sicht die Zwangsmaßnahme nicht in einem Krankenhaus durchgeführt werden müsste, eine zahlenmäßig relevante Gruppe.
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